Die 21 und unser Ostern
In einem der beachtenswertesten Bücher des Jahres begibt sich Martin Mosebach auf Spurensuche in das Dorf El-Or in Ägypten. Er besuchte dort die Familien der 21 koptischen Männer, die zwei Jahre zuvor von IS-Terroristen an einem Strand in Libyen ermordet worden waren, weil sie sich weigerten, ihren christlichen Glauben zu widerrufen. Wir bringen zu Ostern einen Auszug.
Das Buch von Martin Mosebach (Autoreninfo am Ende des Textes) läßt uns betroffen werden. Betroffen von dem Schicksal der 21 Männer und ihrer Familien. Betroffen von der erschreckenden Aktualität des Martyriums, das wir gemeinhin nur aus fernen christlichen Überlieferungen kennen. Die von Mosebach erzählte Geschichte lässt uns aber auch betroffen an uns selbst werden. Gibt es etwas, das wir noch als ein Letztes, ein Unbedingtes, ein an Leib-und-Leben-Einstehungswürdiges erachten? Ostern ist das Fest, an dem abseits allen alltäglichen Strebens und Wirtschaftens Zeit für solche Gedanken sein kann. Zeit für die Frage, was uns im Innersten trägt und das uns unveräußerlich ist.
Michael Oelmann, Herausgeber DDW
Der Kopf des heiligen Kiryollos
Von Martin Mosebach
Das Bild auf der Titelseite einer Zeitschrift hat mich angezogen: Es zeigt den Kopf eines jungen Mannes, eines Südländers offensichtlich, der von ein wenig orangefarbenem Stoff umgeben ist. Ein magerer Junge mit bräunlicher Haut, tiefem Haaransatz und nicht sehr dichtem Schnurrbart, die Augen halb geschlossen; die schmalen Lippen sind leicht geöffnet und lassen ein bißchen von den Zähnen sehen. Das ist kein Lächeln, eher ein Zeichen tiefer Entspannung, in der sich der Mund unwillkürlich öffnet zu einem Atemzug oder einem Seufzer.
Aber der Bildausschnitt, so entdeckte ich dann, hatte mich in die Irre geführt. Ich hatte nicht gleich verstanden, daß der Kopf vom Körper abgetrennt war. Denn den Zügen ist nicht abzulesen, daß dieser Mensch Gewalt erlitten hatte – wenn sich das Gesicht während der Enthauptung verkrampft haben sollte, wenn Schmerz und Angst darauf sichtbar geworden waren, dann hatten sich diese Zustände unmittelbar nach dem Tod schon wieder verflüchtigt.
Das Bild zeigt den Augenblick kurz nach dem Verbrechen. Es stammt aus einem Video, das von den Mördern selbst aufgenommen worden war, um ein Dokument von ihrer Tat zu schaffen und damit in der ganzen Welt Schrecken zu verbreiten. Nur ist das Bild, aus der Folge herausgelöst, zunächst nicht schreckenerregend. Dies war noch nicht der Kopf eines Toten. Nach der Enthauptung schien es bei ihm noch ein winziges Verweilen von Bewußtsein und Wärme gegeben zu haben, einen Ewigkeitsmoment aus Traum und Schlaf, in dem die Endgültigkeit des soeben Geschehenen vielleicht schon gar nicht mehr wichtig war. Die Zerschneidung der Lebensbahnen in ihrer Grausamkeit hatte schon einen neuen Zustand erzeugt, in dem alles Vergangene zurücktrat. Die ganze Existenz des jungen Mannes war jetzt in seinem Kopf versammelt, sehr bald schon würde sie daraus entwichen sein, aber in der im Bild festgehaltenen Sekunde schien dieses abgeschlossene Leben noch einmal greifbar.
Inzwischen kenne ich seinen Namen. Er hieß Kiryollos Boushra Fawzy, geboren am 11. November 1991 in dem oberägyptischen Dorf El-Or in der Diözese Samalout. Sein Namenspatron war der heilige Cyrill von Alexandrien, der im fünften Jahrhundert auf dem Konzil von Ephesus erheblich Anteil daran hatte, der Mutter Jesu das Prädikat «Theótokos», das heißt Gottesmutter, zu erwirken. Aber anders als Cyrill von Alexandrien hat Kiryollos zu Lebzeiten in der Öffentlichkeit Ägyptens nicht die bescheidenste Rolle gespielt. Er war einer der viel zu vielen, die im eigenen Land keine Arbeit finden. Das hinderte nicht, daß er nun gleich seinem hohen Patron zu den Heiligen der koptisch-orthodoxen Kirche zählt. Nur zwei Wochen nach dem Massaker hat Tawadros II., der Papst der Großen Stadt Alexandria, seinen Namen in das «Synaxarium», das liturgische Verzeichnis der koptischen Martyrer, aufgenommen; sein Bild wird auf Ikonen verehrt.
In dem Video vom 15. Februar 2015, das seine Hinrichtung und die seiner zwanzig Gefährten zeigt, habe ich ihn dann lebendig gesehen. Er kniet in aufrechter Haltung vor seinem Henker. Er wirkt gelassen; sein Blick scheint in einer eigentümlichen Unbeteiligtheit auf den vor ihm liegenden Strand gerichtet, als wolle er ihn in allen Einzelheiten noch einmal in sich aufnehmen. Und inzwischen besitze ich auch ein Paßbild von ihm, wohl von 2009. Kiryollos war damals Soldat, sein schwarzes Filzbarett trägt den Blechadler mit den schwarz-weiß-roten Farben der ägyptischen Republik. Die En-face-Aufnahme zeigt, daß sein linkes Augenlid gelähmt war und das Auge halb verdeckte; bei der Musterung hat das offenbar nicht gestört. Auch auf diesem Bild ist ein bißchen von den Zähnen zu sehen, obwohl die Lippen geschlossen sind.
Die Geschichte des Christentums verzeichnet viele Enthauptungen. Der abgeschlagene Kopf Johannes’ des Täufers, des Vorläufers Jesu, erscheint auf vielen alten Gemälden und Mosaiken, die ein Gegenstand der Kunstbetrachtung geworden sind. Der Täufer wurde noch vor der Kreuzigung Jesu enthauptet; sein Kopf fiel durch die Laune einer erzürnten Königin. Ihm folgte der Apostel Paulus, der seine Enthauptung als Privileg eines römischen Bürgers fordern durfte; so blieb ihm der den Sklaven vorbehaltene Foltertod erspart. Danach sind viele Köpfe für den Glauben an Jesus Christus abgeschlagen worden, und zwar auch in Ländern der Christenheit – man denke nur an Thomas Morus in England unter König Heinrich VIII. oder an den von der russischen Orthodoxie heiliggesprochenen Alexander Schmorell als Mitglied der Weißen Rose im Zweiten Weltkrieg.
Und doch sind diese Gestalten sehr weit von uns weggerückt, sie gehören zu einer anderen, uns kaum mehr verständlichen Zeit. Die grausame Art ihres Todes und die Festigkeit, ja Sturheit im Bekenntnis ihres Glaubens scheinen einander zu entsprechen und sind uns gleichermaßen unheimlich. Hat die westliche Welt mit ihrer Bereitschaft zu Diskussion und Dialog solche lebensfeindlichen Gegensätze nicht längst überwunden? Wir leben in einer Zeit strikter Privatisierung der Religion und wollen sie der säkularen Gesetzlichkeit unterworfen sehen. Es gibt einen gesellschaftlichen Konsensus der Ablehnung von Missionierung und Glaubenseifer. Hat all das den erbarmungslosen Alternativen von Glauben und Tod, Verrat des Glaubens und Leben nicht ein Ende bereitet?
Aber das Photo des abgeschnittenen Kopfes von Kiryollos und das Video, das die abgeschnittenen Köpfe seiner Gefährten zeigt, sind erst wenige Jahre alt. Was bedeutet dieser Anachronismus? Sollte er ein Zeichen dafür sein, daß unsere Vorstellung von historischer Entwicklung eine Täuschung war? Daß Martyrium und Christentum in jeder Epoche der Geschichte zusammengehören und daß es Martyrer so lange geben wird, wie es Christen gibt?
Der Kopf auf dem Titelblatt der Zeitschrift ließ mich nicht los. Viele Leser hatten sich darüber empört, wie mir ein beunruhigter Redakteur erzählte, als ich mich nach dem Bild erkundigte. Aber ich wollte es bei mir haben – ich schnitt es aus und habe es viele Male lange betrachtet.
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