Deutschland verdummt
Eine Welle von Jugendlichen, die mangels psychischer Entwicklung nur eingeschränkt am Arbeitsleben teilnehmen können, rollt auf uns zu. An den Universitäten bringen bereits die ersten 18- bis 20-jährigen Studienanfänger, die als Kinder von der Bildungspolitik im Stich gelassenen wurden, die Hochschulprofessoren zur Verzweiflung. Doch vor allem schlagen die Ausbilder der heute 16- bis 17-jährigen Azubis Alarm. Von Dr. Michael Winterhoff
Vor der Jahrtausendwende konnte ein Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit noch darauf zählen, dass seine Psyche in Elternhaus, Kindergarten und Schule durch Bindung und Beziehung entwickelt und es so fit fürs Leben gemacht wurde. Die Erwachsenen erschlossen ihm intuitiv den Zugang zu gedanklichem Reichtum und geistiger oder handwerklicher Kreativität. Heute dagegen sieht es für die meisten Kinder ganz anders aus. Sie müssen viel Glück mit ihren Eltern, Erziehern und Lehrern haben, damit sie zu selbstständigen Erwachsenen werden, die gut mit sich selbst und anderen Menschen zurechtkommen und zum Erfolg der Gesellschaft beitragen. Diejenigen, die dieses Glück nicht haben, finden sich auf einem ganz anderen Gleis wieder:
- Sie werden sich selbst überlassen und sind auf sich allein gestellt.
- Sobald sie als Jugendliche Elternhaus und Schule verlassen, zeigt sich, dass sie nicht in der Lage sind, sich in der Welt zurechtzufinden.
Das Elternhaus und die Institutionen Kindergarten und Schule wirken als geschützter Raum. Damit meine ich hier nicht einen Ort der liebevollen Zuwendung, sondern ein System, in dem das Kind von seinen frühesten Anfängen bis zur Berufsschule oder bis zum Studium durchgereicht wird, ohne dass jemals geprüft würde, wie weit es in seiner Entwicklung gekommen ist. Das Kind ist »geschützt« vor Erfolgskontrollen.
„Dass die Kinder trotz fehlender Fähigkeiten ihren Weg durch die Schule machen, ist nur möglich, weil die Leistungsanforderungen sukzessive heruntergeschraubt werden“
Dass die Kinder trotz fehlender Fähigkeiten ihren Weg durch die Schule machen, ist nur möglich, weil die Leistungsanforderungen sukzessive heruntergeschraubt werden. Vor zwanzig Jahren wäre es nicht möglich gewesen, dass ein Kind, das kaum rechnen, schreiben und lesen kann und einen Wortschatz von vielleicht nur 500 Wörtern hat, eine weiterführende Schule besucht. Heute gibt es keine Hinderungsgründe mehr. An die Stelle der Kindergartenreife ist das Recht auf den Kita- und Kindergartenplatz getreten. Aus der Schulreife ist die im Prinzip freie Wahl der Eltern geworden, wann sie ihr Kind einschulen. In den meisten Bundesländern entscheiden sie auch, auf welche weiterführende Schule ihr Kind geht; nur in Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Bayern hat die Empfehlung der Grundschullehrer noch Gewicht (Stand 2018). Es ist allerdings abzusehen, dass einige Bundesländer wieder zu einer bindenden Grundschulempfehlung zurückkehren. Es ist zu offensichtlich geworden, dass viele Eltern doch nicht so objektiv wie gedacht einschätzen können, welche weiterführende Schule für ihr Kind geeignet ist.
Die Kontrolle, ob eine Entwicklung der Psyche stattfindet, wird immer weiter nach hinten verschoben. Doch irgendwann kommt das, worauf die Kinder eigentlich die ganze Zeit vorbereitet werden sollten: der Übergang aus dem geschützten Raum von Elternhaus und Schule ins selbstständige Leben. Sobald es in den Beruf geht, lassen sich die nicht entwickelten Jugendlichen nicht mehr an die nächste Station weiterreichen und die Leistungsanforderungen nicht mehr beliebig herunterschrauben. Eine vom Lehrling aufgenommene Bestellung muss stimmen, der Azubi muss sein Smartphone weglegen, wenn ein Kunde den Laden betritt, und das vom Bachelor geleitete Projekt darf er nicht in den Sand setzen. Im »echten Leben« lassen sich Defizite nicht mehr wegdiskutieren.
Die Welle der Jugendlichen, die mangels psychischer Entwicklung nur eingeschränkt am Arbeitsleben teilnehmen können, rollt noch auf uns zu. An den Universitäten bringen bereits die ersten 18- bis 20-jährigen Studienanfänger, die als Kinder von der Bildungspolitik im Stich gelassenen wurden, die Hochschulprofessoren zur Verzweiflung. Doch noch schlagen vor allem die Ausbilder der heute 16- bis 17-jährigen Azubis Alarm.
„Viel zu vielen Jugendlichen fehlt es an grundlegenden Fähigkeiten, und ausnahmslos ist die Tendenz steigend“
Das zeigen auch die Ergebnisse der Ausbildungsumfragen, die der Deutsche Industrie- und Handelskammertag seit 2006 durchführt. Während 2006, im ersten Jahr der Umfrageserie, eine unsichere wirtschaftliche Perspektive und die hohen Kosten der Ausbildung als wesentliche Ausbildungshemmnisse genannt wurden, ist es heute mit großem Abstand die fehlende Ausbildungsreife der Jugendlichen. Nur acht Prozent der Unternehmen sahen 2018 darin keine Probleme. Hier die von den Ausbildungsbetrieben genannten Defizite der Schulabgänger und die Häufigkeit ihrer Nennungen; in Klammern die Zahlen des Jahres zuvor:
- mangelnde elementare Rechenfertigkeiten: 50 Prozent (2017: 49 Prozent)
- mangelndes mündliches und schriftliches Ausdrucksvermögen: 61 Prozent (58 Prozent)
- mangelnde Leistungsbereitschaft/Motivation: 63 Prozent (59 Prozent)
- mangelnde Belastbarkeit: 63 Prozent (53 Prozent)
- mangelnde Disziplin: 54 Prozent (50 Prozent)
- mangelnde Umgangsformen: 43 Prozent (40 Prozent)
- mangelndes Interesse: 35 Prozent (32 Prozent)
- mangelnde Teamfähigkeit: 13 Prozent (10 Prozent)
Man sieht: Viel zu vielen Jugendlichen fehlt es an grundlegenden Fähigkeiten, und ausnahmslos ist die Tendenz steigend. Es ist ein Wahnsinn! Wie soll denn Wirtschaft und Gesellschaft in den kommenden Jahren funktionieren, wenn die Fachkräfte von morgen keinen Bock auf Arbeit haben, nicht bereit sind, sich anzustrengen, sich Schwierigkeiten im Job nicht gewachsen fühlen, den Sinn von Pünktlichkeit nicht einsehen, nur um sich selbst kreisen und ihnen das, was sie tun, so ziemlich wurscht ist? Nur bei der Teamfähigkeit schneiden heutige Jugendliche ganz gut ab – aber man kann sich vorstellen, was in ein paar Jahren bei einem Meeting herauskommen wird, wenn es an allem anderen fehlt.
Das Entsetzen über diese schwachen Leistungen erreicht auch mich. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht mindestens eine Mail von Berufsschullehrern, Ausbildern, Unternehmern und Handwerkern erhalte. Sie können es kaum fassen, dass man Sechzehn-, Siebzehnjährigen die Grundrechenarten und den Unterschied zwischen dem Umfang eines Kreises und dessen Radius beibringen muss. Ein Handwerker aus Österreich schrieb mir, dass im Meisterkurs für Ofenbautechnik kaum jemand in der Lage ist, eine simple Fläche zu berechnen. Die Unternehmen müssen nachholen, was in Elternhaus, Kindergarten und Schule versäumt wurde: die Entwicklung der kindlichen Psyche. Das wird ihnen nur mit hohem zeitlichen und finanziellen Aufwand gelingen. Ob sie mit dieser Aufgabe in Summe überfordert sind, wird sich in naher Zukunft zeigen.
„Es ist eine große Not, in der sich unsere Gesellschaft in zehn, zwanzig Jahren befinden wird“
Ich fasse zusammen: Der Umbau der Schulsysteme wurde überhaupt erst mit dem Argument angestoßen, die Kinder seien nicht fit genug für den Arbeitsmarkt. Erst durch »autonomes Lernen« und »offenen Unterricht« sollten sie später als Erwachsene in der globalisierten Welt bestehen können. Selbst wenn man der Meinung wäre, der alleinige Sinn von Bildung läge in der Arbeitsmarktfähigkeit, sollten nach fast zwei Jahrzehnten zunehmend kompetenzorientiertem, schülerzentriertem Unterricht massive Erfolge sichtbar geworden sein: junge Erwachsene, die in der Welt ihren Platz finden. Doch der Schuss ging nach hinten los. Nie zuvor waren Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsensein so unsicher, orientierungslos und lustorientiert. Wenn sie nicht zu den Glücklichen gehören, die sich entwickeln durften, sind sie weder lern- noch leistungswillig, weder belastungsfähig noch sozial kompatibel. Kurz gesagt: nicht lebenstüchtig.
Wenn ich sage: Deutschland verdummt, dann meine ich damit nicht nur, dass die Kinder in der Schule immer weniger lernen, sondern immer weniger über die emotionale und soziale Intelligenz verfügen, die sie für ein Miteinander in der Gesellschaft dringend benötigen würden. Dass es so ist, ist ein großes Versagen der Erwachsenen. Doch die Sache mit der Dummheit geht ja noch viel weiter. Aus Kindern mit nicht entwickelter Psyche werden Erwachsene mit nicht entwickelter Psyche. Es ist eine große Not, in der sich unsere Gesellschaft in zehn, zwanzig Jahren befinden wird. Ein soziales Miteinander kann nur einen begrenzten Anteil an Menschen vertragen, die sich wie Autisten, Narzissten, Egomanen benehmen. Wird nicht umgehend die Bildungspolitik wieder auf die Bedürfnisse des Kindes eingestellt und mit der Irrlehre aufgeräumt, dass ein Kind weder Bindung noch Beziehung braucht, ist das gesamte Gefüge unserer Gesellschaft in Gefahr. Wenn wir es so weiterlaufen lassen wie bisher, wird gegen das, was auf uns zukommt, der heutige dramatische Fachkräftemangel nur ein laues Lüftchen vor dem Sturm sein.
Fazit:
Die Folgen der Kita-, Kindergarten- und Schulpolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte sind katastrophal. Der Entzug von Bindung verbaut dem Kind die Möglichkeit, sich in seiner emotionalen und sozialen Psyche zu entwickeln. Das lässt sich erst dann nicht mehr leugnen, wenn das Kind das Schulsystem verlässt und der Übergang in den Beruf bevorsteht. Dann kann niemand mehr die Augen davor verschließen, dass viele der Schulabsolventen grundlegende Defizite in ihren methodischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten haben. Der vielbeklagte Fachkräftemangel ist also weniger ein demographisches Problem als vielmehr die Konsequenz daraus, dass es vielen Jugendlichen heute an psychischer Entwicklung und damit an Lebenstüchtigkeit fehlt.
Dr. Michael Winterhoff, geboren 1955, Dr. med., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie in Bonn. In seinen bisherigen sehr erfolgreichen Büchern analysiert er gesellschaftliche Entwicklungen mit Schwerpunkt auf den gravierenden Folgen veränderter Eltern-Kind- Beziehungen für die psychische Reifeentwicklung junger Menschen und bietet Wege aus diesen Beziehungsstörungen an.
Weitere Beiträge in unserer Themenreihe:
- Peter Schmidt: Bildung muss differenzieren, nicht gleichschalten
- Josef Klaus: Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt
Bild: Copyright Peter Wirtz
Erschreckend aber leider wahr. Und noch schlimmer, aufgrund fehlenden gesellschaftlichen Konsenses wird sich daran aller Wahrscheinlichkeit nach auch nichts ändern – und es gibt keine
Partei, die die Kraft, den Willen und die Mehrheit dafür hätte hieran etwas zu ändern. Armes und dummes Deutschland!
Ich muß Ihnen leider zustimmen.
In 20 Jahren habe ich von 15 ausgebildeten nur 2 Lehrlinge
als fruchtbringende Einbringung in die Firma wahrnehmen können.
Leider gelang es nicht diese zu binden, da beide auch weiter-
führende Ziele innehatten, in dem einen Fall Studium oder 1x Meisterschule bis in die Selbstständigkeit .
Definitiv den Nagel auf den Kopf getroffen.
Ständig hören wir, welche psychischen Schäden Kinder nehmen, wenn sie in der Schule sitzenbleiben oder in eine Förderklasse gehen müssen. Aber welchen psychischen Schaden nehmen sie, wenn sie nach der Schule feststellen, dass sie schlicht weg dumm sind? Nicht nur die Schulen sind hier in der Verantwortung!! Die Eltern müssen endlich begreifen, dass es ihre Kinder sind, denen sie das Leben zerstören, weil sie sich nicht konsequent Regeln durchsetzen, in denen Respekt, gutes Benehmen und das Lernen für die Zukunft einen höheren Stellenwert haben, als die Bequemlichkeit der Eltern, diesem Stress aus dem Weg zu gehen. Denn das ist anstrengend, kostet Nerven und birgt die Gefahr, dass die jungen Herrschaften rebellieren. Diese Verantwortung hat man aber übernommen, als man sich entschieden hat, Kinder in die Welt zu setzen. Das hat weder der Staat noch eine Schule oder ein Betrieb beschlossen! Kuschelkurs auf allen Ebenen und nur zur Zufriedenheit der Kinder ist definitiv der falsche Weg. Ich bin Mutter von zwei Kindern und weiß wie viel Kraft es kostet, hier auch Konsequenzen durchzuziehen.
Das haut mich um (ich bin 80 Jahre alt)
und habe viele Lehrlinge ausgebildet
habe immer in die Ausbildungsverträge
ergänzend zu „Ausbildungsverhältnis“ auch Erziehungsverhältnis
reingeschrieben (es hat sich niemand beschwert vielleicht nicht mal gemerkt)
Das Ganze verlangt nach einem „Runden Tisch“
und zwar jetzt ! ! !
Die Erfahrungen meinerseits sind schon alt, die 90er Jahre waren schon alarmierend. Es sind unsere Politiker, die versagt haben (Wählerstimmen waren wichtiger) Ich könnte ein Buch schreiben ! ! !
Was tun ? Wer hat die Initiative, den Mut „gegen den Strom“ ?
Bin gespannt
Besten Gruß
Siegfried R. Oehler
ich kann aus meiner Erfahrung der letzten 30 Jahre dem nur beipflichten.
Ich stimme zu 100% zu, die Vielzahl der „Baustellen“ führen alle Pädagogen jenseits ihrer Grenzen, Bildungsinstitutionen können diese Defizite nicht kompensieren. Ich frage mich schon länger, wer die Eltern der beschriebenen Generation erzogen hat oder was sie beeinflusst hat, heute eine solche „Nicht-Erziehung“ zu praktizieren. – ? Wie auch immer die Antwort lauten mag, es ist fünf nach zwölf!
In der Vergangenheit hatten Familien der Deutschen Mittelschicht im Schnitt eine hervorragende Geborgenheits- Erziehungs- und Bildungskultur. Aus den Kindern wurden Menschen die dazu beitragen konnten dass Deutschland ein führendes Industrie- und Kulturland wurde und blieb. Diese Tatsache wurde als Leistung nicht wahrgenommen. Honoriert sowieso nicht. Da unser Staat die Sozialversicherungsbeiträge beider Elternteile haben will bleibt Familien nur die Fremdbetreuung von Kindern, möglich ab Geburt. Aktueller Stand: Eltern ohne Elternerfahrung und Kinder ohne feste Bezugspersonen, die sich über ihre ganze Kindheit in diversen Betreuungssituationen befinden, die in der Mehrzahl qualitativ minderwertig sind. Die politischen Entscheidungsträger zeigen sich hier entweder inkompetent oder besonders sparsam (an definitiv falscher Stelle!)