Alles unter dem Himmel

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China ist eine Erzählung, Tianxia hingegen eine Theorie.  天下 (Aussprache: Tiänchia) lässt sich mit „Alles unter dem Himmel“ übersetzen und ist einer der zentralen Begriffe der klassischen chinesischen Philosophie. Um Chinas aktuelles weltpolitisches Denken zu verstehen, stellt er eine wichtige Brücke dar. 

Von Zhao Tingyang

Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann

Politische Fragen werden durch die Entitäten politischer Existenz (political units) entschieden. Politische Entitäten (Systeme oder Institutionen) definieren das Innen und das Außen des Politischen, sie entscheiden über den Umfang politischer Probleme, über die Art und Weise der Interessenabwägung wie auch über die Operationsweise der Macht. So ist z.B. das Individuum die kleinste politische Entität, sie definiert den individuellen Nutzen, die individuellen Machtmöglichkeiten, die Art und Weise, andere vom Nutzen auszuschließen, sowie die damit verbundenen politischen Probleme. Mehrschichtige politische Entitäten formen einen politischen Rahmen, definieren den politischen Raum und entscheiden darüber, welche politischen Aktionen und Probleme denkbar sind und welche nicht.

Innerhalb des Rahmens der traditionellen politischen Philosophie Chinas existierten politische Entitäten auf drei Ebenen: Tianxia – Staat – Sippe. Der Einzelne war lediglich eine biologische Entität, bis zu einem gewissen Grad auch eine wirtschaftliche Rechnungseinheit, jedoch keine politische Entität. Die Fragen politischer Freiheit und individueller Menschenrechte waren daher im alten China nicht Teil der Agenda. Erst mit dem neuzeitlichen Import des westlichen Individualitätsbegriffs nach China wurde das Individuum zu einer politischen Entität. Innerhalb des Rahmens von Tianxia – Staat – Sippe war das Tianxia nicht nur die umfangmäßig größte politische Entität, sondern bildete auch das letztgültige Erklärungsprinzip für den gesamten Rahmen. Das Tianxia definierte den gesamten semantischen Kontext der Politik, sämtliche politische Fragen wurden im Rahmen des Tianxia-Konzepts interpretiert. In diesem politischen Raum wurde die politische Interpretation geformt durch die inklusive Ordnung (inclusive order) der drei Ebenen Tianxia – Staat – Sippe, die ethische Interpretation dagegen nahm die Form einer extensiven Ordnung (extending order) Sippe – Staat – Tianxia an. Beide zusammen bildeten einen sich gegenseitig erklärenden internen Kreislauf.

„Fehlt die Ebene des »Individuums«, fehlt die politische Garantie individueller Autonomie. Fehlt die Ebene des »Tianxia«, dann hängt das Weltsystem in der Luft, die Überwindung des anarchischen Zustands und die Erreichung des Weltfriedens wird unmöglich“

Der Rahmen der modernen Politik wird durch die Struktur Individuum – Gemeinschaft – Nationalstaat definiert, bereits der Staat bildet darin die umfangmäßig größte Entität. Es gibt kein politisches Subjekt, das über dem Staat angesiedelt ist. Das Individuum bildet die Grundlage des Rahmens moderner Politik und bietet die letztgültige Erklärung für das Ganze der politischen Struktur, die damit dem Erklärungsmodell des Tianxia diametral entgegen gesetzt ist. Die beiden politischen Systeme formen zusammen eine Art gegenseitig versetzter Zahnräder, die sich strukturell ergänzen. Die Ergänzung kann die Kapazität der politischen Welt erweitern und dazu beitragen, ein neues Konzept des Politischen zu schaffen. Fehlt nämlich die Ebene des »Individuums«, fehlt die politische Garantie individueller Autonomie. Fehlt die Ebene des »Tianxia«, dann hängt das Weltsystem in der Luft, die Überwindung des anarchischen Zustands und die Erreichung des Weltfriedens wird unmöglich. Wenn es nicht gelingt, eine angemessene Weltordnung zu schaffen, droht sich die globale Politik angesichts der Entstehung neuer Mächte, die im Zuge der Globalisierung allmählich die Politik der Staaten und deren Kontrollmöglichkeiten internationaler Politik hinter sich lassen, in ein Risikospiel des Kontrollverlustes zu verwandeln.

ZHAO Tingyang – Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung, aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 266 Seiten, 22€

Die Politik der Moderne produziert zwei Typen politischer Probleme: Die der nationalen Politik und die der internationalen Politik. Wesen, Ziele und Regeln nationaler Politik sind von höchster Klarheit, Wesen, Ziele und Regeln internationaler Politik sind dagegen nicht festgelegt und kaum festzulegen. Es ist nicht einmal klar, ob internationale Politik darauf abzielt, zwischenstaatliche Konflikte zu lösen oder zusätzliche Konflikte zu schaffen. Die internationale Politik verfügt über keine ihr innewohnenden Ziele und Ideale, sie ist vielmehr ein Derivat staatlicher Politik, sie dient der Außenpolitik im Interesse des Staates. Internationale Politik ist daher nur ein Anhängsel staatlicher Politik. Kant hat einst eine bewundernswerte Idee formuliert, als er erkannte, dass Krieg nicht in der Lage ist, Interessenkonflikte zwischen Staaten zu lösen, und es daher eines Plans für einen immerwährenden Frieden bedürfe. Aber Kants Vorstellung von einem »Bund freier Staaten« überstieg nie das Konzept einer auf Nationalstaaten beruhenden internationalen Politik, es ist nicht imstande, das später von Huntington aufgeworfene Problem des »clash of civilizations« zu lösen, ja es ist nicht einmal in der Lage, die Stabilität und Glaubwürdigkeit eines internationalen Bundes zu garantieren. Staaten, die nach exklusiver Nutzenmaximierung streben, unterliegen den gleichen Regeln wie Einzelpersonen, die nach Maximierung privaten Nutzens streben. Ohne einen auf stabiles Vertrauen gegründeten gemeinsamen Nutzen oder gegenseitige existenzielle Abhängigkeit sind selbst kulturell äußerst homogene Staatenbündnisse unzuverlässig und instabil. In der modernen Welt mit ihren höchst unterschiedlichen Niveaus im technologischen und wirtschaftlichen Bereich wird imperialistische Dominierung und Ausbeutung des »Restes der Welt« zwangsläufig zur vorherrschenden Strategie (dominating strategy) der mächtigen Staaten. Dennoch sind Ausbeutung und Unterdrückung nur vorübergehender Erfolg beschieden. Da der Imperialismus nicht in der Lage ist, Widerstand und die strategische Nachahmung durch Konkurrenten zu verhindern, ist ihm kein dauerhafter Erfolg beschert. Marx hat darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus seine eigenen Totengräber heranzüchtet, offenbar gilt das ebenso für den Imperialismus. Aber der von Marx entsprechend seiner Klassentheorie erdachte »Internationalismus« ist gleichermaßen unzuverlässig. Im System konkurrierender Nationalstaaten übertreffen die Interessenkonflikte zwischen den proletarischen Klassen der jeweiligen Länder sogar die Interessenwidersprüche zwischen den nationalen Kapitalistenklassen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit einer Vereinigung der Proletarier aller Länder noch geringer als ein Zusammenschluss der Kapitalisten aller Länder. Ohne Veränderungen im Wesen der existenziellen Weltordnung sind internationale Widersprüche kaum effektiv zu lösen. Es ist sinnlos, darauf zu hoffen, dass die diversen Strategien internationaler Politik wie Dominanz, strategisches Gleichgewicht, Eindämmung, Sanktionen, Interventionen, sogar Krieg, Geopolitik oder kulturelle Hegemonie Konflikte lösen, sie vertiefen im Gegenteil die Widersprüche. Ebenso wenig dürfen wir Hoffnungen in die ethischen Vorstellungen des Kosmopolitismus oder Internationalismus setzen, moralische Utopien sind nicht in der Lage, interessengeleitete Entscheidungen von Menschen zu verändern, sie können lediglich die Absurditäten des Lebens noch deutlicher vor Augen führen. Wie soll es den Weltbürger geben, bevor eine Welt universeller Teilhabe existiert? Und wo soll er existieren? Wir müssen Vorstellungen der Zukunft entwickeln, aber wir können die Zukunft nicht vorwegnehmen.

„Die internationale Politik ist nicht nur unfähig, internationale Konflikte zu lösen, sie ist im Gegenteil unaufhörlich damit beschäftigt, nach Strategien zu suchen, die dem Gegner Niederlagen zufügen“

Die internationale Politik ist nicht nur unfähig, internationale Konflikte zu lösen, sie ist im Gegenteil unaufhörlich damit beschäftigt, nach Strategien zu suchen, die dem Gegner Niederlagen zufügen. Das ist durchaus nachvollziehbar, da unter den Voraussetzungen des Nationalstaatensystems keine Rezepte der Konfliktlösung existieren, außer dem Kampf bis zum bitteren Ende. Die Strategie internationaler Politik sind keineswegs dumm, sie sind in Wirklichkeit nur allzu raffiniert. Und genau darin liegt das Problem: Warum sind wir trotz derart ausgeklügelter Theorien, Strategien und Erfahrungen hoffnungslos unfähig, die Probleme zu lösen? Die Fakten beweisen, dass die internationale Politik, abgesehen von einigen unbedeutenden Disputen, keinen einzigen ernsthaften Konflikt gelöst hat, wie z.B. den zwischen Israelis und Palästinensern, die Probleme des Mittleren Ostens, den Konflikt zwischen Russland und dem Westen oder die Gegensätze zwischen den USA und China. Politische Analysten sind immer gut darin, akzidentielle Ursachen für politisches Versagen zu finden, sie mögen bis zu einem gewissen Grad Recht haben, aber die wirklich entscheidende Ursache liegt darin, dass die Konkurrenten über gleich raffinierte Strategien verfügen, es gibt in strategischer Hinsicht sogar geteiltes Wissen (common knowledge), Pattsituationen sind daher unvermeidbar. Solange die Kontrahenten auf beiden Seiten gleich schlau und gnadenlos sind, führen auch die raffiniertesten Strategien nicht zum Ziel. Selbst wenn eine Seite vorübergehend die Oberhand gewinnt, führen strategische Nachahmung oder Gegenmaßnahmen der anderen Seite zu Niederlagen, wenn man glaubt, den Sieg bereits vor Augen zu haben. Strategien und Theorien der internationalen Politik sind bereits extrem elaboriert, und es ist durchaus denkbar, noch raffiniertere Strategien zu entwickeln, aber sie sind, gleichgültig, mit welcher strategischen Raffinesse die Kämpfe geführt werden, zum Scheitern verurteilt. Hierin liegt die Beschränktheit internationaler Politik, und sie macht deutlich, dass die Konzepte internationaler Politik allmählich versagen. Unter den Bedingungen der Globalisierung schrumpft die Theorie der internationalen Politik zu einer Theorie partikularer Kämpfe, sie ist unfähig, die politischen Fragen der Welt als Ganzes zu erklären.

Die Globalisierung verändert den Existenz-Modus der Welt und die Lebensweise der Menschheit; und sie verändert damit zwangsläufig auch die politischen Fragestellungen. Das Heraufkommen der Globalisierung enthüllt die Defizite der internationalen Politik, die unfähig ist, auf die durch die Globalisierung herbeigeführten neuen Fragestellungen zu reagieren, angesichts globaler Fragen zeigt sie sich sogar völlig hilf- und ratlos. Der Begriff des Zusammenlebens bezieht sich nicht mehr nur auf das Innere von Nationalstaaten oder Gemeinschaften, es geht zunehmend um das Zusammenleben im globalen Maßstab, und dies wirft die Frage einer über das System der Nationalstaaten hinausgehenden Machtausübung auf. Bei zunehmend enger werdender Interdependenz aller Staaten muss sich die Frage nach der Souveränität der Welt stellen. Neben staatlicher und internationaler Politik ist daher ein weiteres politisches Konzept erforderlich, das sich als »Globalpolitik« oder »Weltpolitik« bezeichnen ließe. Dieses politische Konzept betrachtet die gesamte Welt als größte Maßeinheit der Bedingungen des Zusammenlebens und versteht und interpretiert davon ausgehend die politischen Fragen in der Welt. Das bedeutet, dass die Kernfrage der globalen Politik die »Inklusion der Welt« ist, und genau das meint die Umwandlung der Welt gemäß dem »Alles unter dem Himmel«.

Zhao Tingyang ist als einer der bedeutendsten chinesischen Philosophen der Gegenwart. Das „Nouveau magazine littéraire“ kürte ihn zu einem der 35 einflußreichsten Denker der Welt. Er gilt er als „Staatsphilosoph“, dessen Werke auf den Nachttischen der politischen Führung Chinas liegen. Mit seinem Hauptwerk „Alles unter dem Himmel“ liegen nun seine Überlegungen zu einer neuen politischen Weltordnung erstmals in deutscher Übersetzung vor.

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