Xi Jinping und der „chinesische Traum“
Mächtigster Mann der Welt ist heute nicht mehr der Präsident der USA, sondern Xi Jinping, Generalsekretär der Kommunistischen Partei und Staatspräsident Chinas. Was treibt den Funktionär an, der eine Machtfülle auf sich vereint wie vor ihm nur Mao?
Von Stefan Aust und Adrian Geiges
»Die Wahrheit in den Tatsachen suchen« ist ein Satz aus dem Han Shu, einem chinesischen Geschichtswerk, das im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung entstand. Er wurde von Mao Zedong benutzt, dem Gründer der Volksrepublik China, und dann wieder von Deng Xiaoping, der damit seine Reformpolitik begründete. So wird das Zitat inzwischen meist Deng Xiaoping zugeschrieben.
»Die Wahrheit in den Tatsachen suchen« – daran haben auch wir uns gehalten bei den Recherchen über den heutigen chinesischen Führer Xi Jinping. Dem Buch liegt keine politische Agenda zugrunde. Weder gab es Einfluss von Seiten der chinesischen Regierung, noch betreiben wir »China-Bashing«. Mit diesem unpräzisen Begriff wird oft einer kritischen Darstellung der Kommunistische Partei Chinas unterstellt, sie sei gegen China oder gar gegen die Chinesen gerichtet.
„Über weite Strecken der Menschheitsgeschichte war China die führende Weltmacht. Xi spricht immer wieder über diese Zeiten“
Es geht auch nicht um eine Parteinahme für oder gegen Xi Jinping. Wir wollen ihn – soweit möglich – darstellen, wie er ist. Dabei stützen wir uns auf seine Reden, die verfügbaren Quellen über seine Lebensgeschichte und seine Politik und auf unsere eigenen Interviews und Reportagen in und über China. Das Urteil über den zurzeit mächtigsten Mann der Welt sollten Sie sich selbst bilden.
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Natürlich spielt Xi Jinping bei seiner Losung vom »chinesischen Traum« bewusst auf den amerikanischen Traum an. Wie im amerikanischen Traum geht es dabei um Wohlstand. Der soll allerdings nicht durch erbarmungslosen Konkurrenzkampf erzielt werden, vielmehr sollen alle gemeinsam China stärken. Während der amerikanische Traum ein individueller ist, geht es beim chinesischen auch darum, die Macht des ganzen Landes zu mehren. Oder wie Xi Jinping es 2012 sagt, als er die Ausstellung »Der Weg zur Renaissance« besucht und dabei erstmals vom »chinesischen Traum« spricht: »Aus der Geschichte wissen wir, dass das zukünftige Schicksal jedes Einzelnen eng mit dem zukünftigen Schicksal des ganzen Landes sowie des gesamten Volkes verbunden ist. Erst wenn es Land und Volk gut geht, wird es letztlich allen gut gehen.«
Die Geschichte, die Xi Jinping hier meint: Über weite Strecken der Menschheitsgeschichte war China die führende Weltmacht. Xi spricht immer wieder über diese Zeiten: »In Hinsicht auf sein landwirtschaftliches Niveau war China lange Zeit weltweit führend. In der Han-Dynastie (202 v.Chr.– 220 n. Chr.) verfügte China über eine Bevölkerungszahl von mehr als 60 Millionen Menschen und eine kultivierte Bodenfläche von mehr als 53 Millionen Hektar. Die Hauptstadt Chang’an der Tang-Zeit (618 – 907) hatte eine Fläche von über 80 Quadratkilometern, und die Einwohnerzahl betrug über eine Million. Es gab prächtige Paläste, große Tempelanlagen mit hoch aufragenden Pagoden und florierende Märkte. In einem Gedicht des Tang-Dichters Cen Shen (ca. 715 – 770) heißt es, dass ›in der Stadt Chang’an eine Million Familien lebten‹. Die höchsten Steuereinnahmen der Nördlichen Song-Dynastie (960 –1127) betrugen 160 Millionen Guan (1 Guan waren 1000 durch eine Schnur aufgereihte Münzen). China war damals das reichste Land der Welt. Zu jener Zeit zählten andere Großstädte wie London, Paris, Venedig oder Florenz weniger als 100 000 Einwohner, während es in China knapp 50 Städte mit einer Bevölkerungszahl von über 100 000 Menschen gab.«
Noch im Jahr 1820 erwirtschaftete China ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts der Welt – dabei waren da längst die europäischen Kolonialmächte auf dem Vormarsch und befand sich die einstige Weltmacht China im Niedergang. 800 Jahre vor Gutenberg hatten die Chinesen Bücher gedruckt. 1300 Jahre vor den Europäern stellten sie Stahl her. Sie erfanden das Papier, das Porzellan, das Schießpulver und den Kompass. »Statistiken zufolge stammen 173 der 300 wichtigsten Erfindungen und Entdeckungen der Welt vor dem 16. Jahrhundert aus China«, sagt Xi Jinping. »Im Vergleich zu den Europäern gleicher Zeit waren wir also weit voraus.« Von diesen Zeiten träumt er, deshalb spricht er von der »großen Renaissance der chinesischen Nation«.
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Stefan Aust, lange „Spiegel“-Chefredakteur und heute „Welt“-Herausgeber, gehört zu den wenigen Journalisten, die ein chinesisches Staatsoberhaupt interviewten. Adrian Geiges lebte zehn Jahre in China, berichtete von dort als Korrespondent des „Stern“. In ihrem neuen Buch, dem dieser Text entnommen ist, zeichnen das Porträt einer Persönlichkeit, die unser aller Leben beeinflusst.
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