![](https://ddwcdn.b-cdn.net/wp-content/uploads/2022/01/frankfurt-gde100d8bf_1280-807x538.jpg)
Veränderung managen: Die Zukunft unserer Innenstädte
Innenstädte sind das „Herz der Stadt“ und eben nicht Betriebstyp oder Assetklasse. Sie sind fundamentaler Bestandteil unserer Lebenskultur. Das zeigt sich gerade jetzt, in Corona-Zeiten. Sie sind es wert, dass wir Allianzen bilden und für sie stark machen.
Von Roland Wölfel
Kürzlich wurde mir die Ehre zuteil, als Zeitzeuge für das Haus der Bayerischen Geschichte interviewt zu werden. Im Bereich Stadtplanung und -entwicklung zu den Themen Innenstadtentwicklung und Verödung der Ortskerne in den letzten Jahren und zur Zukunft unserer Städte. Das erfüllte mich mit Stolz. Doch je mehr wir über die Entwicklung und einzelnen Epochen zur Rettung der Innenstädte ins Gespräch kamen, desto mehr wurde klar, wie wichtig und erfüllend es ist, sich für das „Herz der Stadt“ einzusetzen und dafür über 30 Jahre zu brennen. Gerade jetzt während der Pandemie. Jetzt zu erkennen, nach den Diskussionen um die ersten Fußgängerzonen, die ersten Kaufhäuser, Einkaufs- und Fachmarktzentren und den Online-Handel, dass die Innenstädte wohl über Jahrzehnte von alledem die größte Resilienz und Anpassungsfähigkeit bewiesen haben. Sie sind eben nicht Betriebstyp oder Assetklasse. Sie sind fundamentaler Bestandteil unserer Lebenskultur. Schmelztiegel von Innovation und Anker für unsere Gesellschaft. Und sie sind es wert, dass sich Allianzen für sie stark machen und Impulse setzen.
Einige Beispiele für Innovationen im Innenstadtbereich zeigen wir in den Infokästen dieses Beitrags. Sie sind der Initiative „Stadtimpulse“ entnommen, die federführend von der cima begleitet wird und deutschlandweit mustergültige Ideen und Initiativen sammelt. www.unsere-Stadtimpulse.de.
![](https://ddwcdn.b-cdn.net/wp-content/uploads/2021/07/Roland-Woelfel-Geschaeftsfuehrer-CIMA-Beratung-Management-GmbH.png)
Mitten im Wandel: Über Möglichkeitsräume
Gegenwärtig stellt der Umbruch in unseren Städten alle Innenstadt-Gestalter vor eine spezielle Herausforderung – denn gleichzeitiges Handeln auf verschiedenen Ebenen ist erforderlich: Das waren die Corona-Sofort-Maßnahmen – etwa Schritte zur digitalen Sichtbarkeit oder Solidaritätsaktionen; weiterhin werden der Übergang sowie der Re-Start der Innenstadt vorbereitet. Diverse Labore, Experimente und neue Bündnisse ebenso wie Investitions- und Förderprogramme, Gründerwettbewerbe oder Kampagnen und Events zeugen davon. Und parallel dazu soll ein langfristiger Strukturwandel für die Zukunftsstadt der nächsten 10 bis 15 Jahre entwickelt werden. Wie lässt sich das alles managen? Welche Hilfen nutzen wirklich? Wie sehen erfolgversprechende Strategien aus? Was muss der Handel tun, um sich neu auszurichten? Wie müssen sich die Städte der Zukunft organisieren?
Beispiel Wittenberge (DDW Standortranking Platz 1.590)
Mit dem „Summer of Pioneers“ lud die Stadt im Juli 2019 20 urbane Digitalarbeiter ein, für sechs bis zwölf Monate auf Probe in Wittenberge zu wohnen und kostenlos einen eigens eingerichteten Coworking Space zu nutzen, der auch Interessierten aus der Region offenstand.
Hintergrund: Wittenberge ist eine Kleinstadt auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg. Seit der Wiedervereinigung hat der ehemalige Industriestandort fast vierzig Prozent seiner Einwohner verloren. Die alten Industriebauten haben teilweise eine neue Nutzung gefunden, trotzdem sind im Stadtbild noch erhebliche Leerständen erkennbar.
Die Pioniere sollten ihr Wissen und ihre Netzwerke in der Stadt einbringen sowie das kulturelle Angebot bereichern. Die Möglichkeit, für eine begrenzte Zeit in die Stadt zu ziehen, hat eine Entwicklung angestoßen, mit der kaum jemand gerechnet hat. Mehrere der „Pioniere auf Zeit“ sind zu neuen Wittenbergern geworden, die sich auch nach Abschluss des Projektes für ihre neue Wahlheimat engagieren.
Nun, in jedem Falle gilt es den geforderten Umbau der Innenstädte offensiv und mutig anzugehen! Im Grunde ist dies eine Aufgabe der gesamten Stadt-Gesellschaft. Fest steht, der Einzelhandel verliert seine dominante, identitätsstiftende Rolle für die Zentren, die Handelsflächen in den Innenstädten werden geringer. Eine Verschiebung vom reinen Konsum- zum Erlebnis-, Freizeit- und Lebensort zeichnet sich ab. Wir brauchen Treffpunkte, Kommunikationsräume, auch konsumfreie Zonen oder weniger ökonomische Nutzungen wie soziale Interaktion, Stadtkultur und Nachbarschaft, die einen vielseitigen Aufenthalt in der Innenstadt ermöglichen. Dabei bleibt das Leitbild der europäischen Stadt städtebauliche Maxime. Die Innenstadt muss als Gesamtdestination überzeugen. Die Stadt der Zukunft ist die Stadt des Dialoges. Es geht dabei vordergründig um aktuelle Themen wie Mobilität, Klimawandel oder Online-Handel. Es geht aber auch um weitergehende Fragestellungen wie die Rolle von Kultur und Geschichte für die Lebendigkeit unserer Städte oder die Offenheit unserer Gesellschaft für Zugewanderte.
Einige Bundesländer haben bereits Förderprogramme für ihre Zentren aufgesetzt. Ende 2020 genehmigte die Koalition 25 Mio. Euro zusätzlich zur Städtebauförderung. Im Juli 2021 lobte das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) das Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ aus. Städte und Gemeinden können bis zum 17.09.2021 Projektvorschläge für innovative Konzepte und Handlungsstrategien zur Stärkung der Resilienz und Krisenbewältigung einreichen. Es stehen insgesamt 250 Mio. Euro zur Verfügung.
Beispiel Siegen (DDW Standortranking Platz 61)
Das Stadtentwicklungs-Konzept „Siegen – Zu neuen Ufern“ zielt darauf ab, das negative Image und das verbaute Erscheinungsbild der Siegener Innenstadt aufzubrechen, um den Bürgern einen neuen Identifikationsort mit ihrer Stadt zu bieten. Dies gelang mit einem Bündel aus städtebaulichen Umbaumaßnahmen, die von einer Informations- und Marketingstrategie begleitet wurden.
Das Großprojekt wurde von 2012 bis 2017 realisiert. Das aktive Stadtumbaumanagement rund um den Fluss Sieg, der Rückbau der als Parkplatz genutzten Siegplatte sowie Renaturierungsmaßnahmen schafften völlig neue Rahmenbedingungen. Die begleitende Öffentlichkeitsarbeit und Beteiligungsformate stellten in ihrer Breite, Dauer und Vielfalt ein absolutes Novum für Siegen da. Von den Umsetzungen profitiert die Stadt bis heute. Die Attraktivierung des Stadtzentrums bietet große Vorteile für die dortigen Vermieter, Händler und Gastronomen, die sich unter anderem durch einen gesteigerten Umsatz zeigen. Zudem bildet die für 2023 geplante Neuschaffung einer innerstädtischen, öffentliche Grünfläche den Abschluss des erfolgreichen Projektes.
Allianzen, Strukturen, institutioneller Aufbau
Wenn Sie mich fragen: Wir haben in der Regel kein Erkenntnisproblem, sondern vor allem eine Verwertungsproblem aufgrund der Vielzahl von Erkenntnissen, die vielleicht nicht wirklich neu sind, aber durch Corona noch mal besonders deutlich werden. Da stellt sich für mich die Frage: Was braucht es organisatorisch?
Im vergangenen Herbst hat das BMI einen Beirat Innenstadt gegründet, der maßgeblich an der Innenstadtstrategie der Bundesregierung mitgearbeitet hat. Lesen Sie auf den nachfolgenden Seiten wie es mit der neuen Initiative stadtimpulse gelungen ist, eine bisher nie da gewesene gemeinsame Allianz und Plattform zu erfolgreichen Innenstadt-Lösungen ins Leben zu rufen. Wann hat es das schon einmal gegeben, dass sich in wenigen Wochen auf ein gemeinsames Projekt und ein Ziehen an einem Strang verständigt werden konnte? Die Initiative stärkt den bundesweiten Wissenstransfer und den Austausch zwischen den Kommunen, sie ist ebenfalls Teil der Innenstadtstrategie des Bundes. Und auf lokaler Ebene werden solche Allianzen ja häufig vom Stadtmarketing und Citymanagement, koordiniert, moderiert und vorangetrieben.
Beispiel Bernau bei Berlin (DDW Standortranking Platz 630)
Das Projekt „Digitales Stadt- und Standortmarketing mittels VR und 360° Ansichten“ verknüpft über einhundert 360°-Aufnahmen der Innenstadt – aus der Luft und am Boden – zu einer interaktiven 360°-Tour. Durch diese Darstellung kann der Nutzer mithilfe seines Desktops, seines Smartphones oder einer VR-Brille in das Geschehen der Stadt Bernau eintauchen. Neben Informationen zur Stadtgeschichte und aktuellen Veranstaltungen werden auch die Gewerbetreibenden der Werbegemeinschaft mit ihren Profilen sowie das UNESCO Welterbe Bauhaus Denkmal Bundesschule Bernau vorgestellt. Die cloudbasierte Anwendung kann jederzeit mit neuen Inhalten, wie Rundgängen und Schnitzeljagden gefüttert und aktualisiert werden.
Nachdem das Baustellenmarketing zum im Oktober 2020 fertiggestellten Rathaus ebenfalls über den 360°-Rundgang abgewickelt wurde, steht für 2021 die touristische Digitalisierung weiterer Ortsteile an.
Wenn jetzt die wesentlichen Akteure auf Bundesebene an einem Tisch sitzen und damit eine Abkehr von Einzelinitiativen, interessensgeleiteten Forderungskatalogen etc. verbunden ist, haben wir eine erste, wichtige Etappe erreicht. Vergleichbares muss auch auf Landesebenen und vor Ort geschehen. Nur so wird es gelingen, den erforderlichen Change-Prozess in unseren Innenstädten dauerhaft zu gestalten. Entscheidend ist jedoch, flächenhaft den Umbau der Innenstädte zu initiieren.
Ich gehe noch einen Schritt weiter und sage, die Allianzen für die Innenstadt müssen mittel- und langfristig noch breiter aufgestellt werden. Wir brauchen auf Bundes- und Landesebene bzw. auf kommunaler Ebene Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Immobilieneigentümer an einem Tisch. Und müssen auch die Kulturschaffenden, die sozialen Einrichtungen, das Gemeinwesen und Umweltorganisationen etc. noch stärker einbinden. Das ebnet den Weg für ein neues Verständnis des kollaborativen Miteinanders und für eine Abkehr vom sektoralen Agieren. Wir müssen die „Verbands- oder Einzelinteressenbrille“ durch die „Innenstadtbrille“ tauschen! Um das aufzubauen, braucht es personelle und finanzielle Ressourcen, Wissen über geeignete Instrumente und Verfahren und vor allem Offenheit für ein entsprechendes Veränderungsmanagement.
Alle Städte im Überblick
Das aktuelle Städteranking von DDW zeigt die Platzierungen aller Städte Deutschlands
Von der Shoppingmeile zu „unserer Mitte“
Daher blicke ich gespannt auf die nächste Epoche der Innenstadt. Sie steckt voller Überraschungen! Bleiben wir neugierig, kreativ, kooperativ und hartnäckig! Wir haben die Chance, breite lokale, wie auch nationale Allianzen für Innenstädte zu schmieden und die Innenstädte in die nächste Zeit zu führen. Von der reinen Shoppingmeile zu „unserer Mitte“, die wir alle gerne aufsuchen und auf die wir stolz sind, muss die Devise lauten. Mensch, Qualität und Nachhaltigkeit werden als neue Maßstäbe dienen. Nicht zurück zu alter, sondern auf zu neuer Stärke ist das Gebot der Stunde!
Beispiel Kiel (DDW Standortranking Platz 33)
Vor dem Hintergrund der umfangreichen Baumaßnahmen im Herzen der Innenstadt überzeugten der Kiel-Marketing e.V. (KM) und Vertreter der Immobilienwirtschaft 2016 die Stadtspitze von der notwendigen Initiierung eines eigenen Innenstadt-Managements (IM). Darauf erfolgte die politische Zusage, dass jeder privat investierte Euro von Seiten der Stadt für die Schaffung einer Personalstelle verdoppelt wird (bis zu 100.000 Euro über drei Jahre).
So konnte im Mai 2017 das Innenstadt-Management etabliert werden, das seitdem als Bindeglied zwischen Privatwirtschaft und Verwaltung aktiv zur Entwicklung des öffentlichen Raums beiträgt. Schwerpunkt der Arbeit als zentrale Schaltstelle ist die Vermittlung und Koordination zwischen allen Beteiligten und die Unterstützung des Projektverlaufs im Bereich Leerstandsmanagement. Zu den einzelnen Bausteinen gehören eine aktuelle Leerstandsbörse und ein Zwischennutzungskonzept, unter anderem mit einem Pop-up Pavillion und entsprechenden Impulsprojekten.
Wichtig ist ebenso die Förderung der Einbindung von Kieler und Gewerbetreibenden in den Umgestaltungsprozess, die Unterstützung des Informationsflusses zwischen Verwaltung und Gewerbetreibenden sowie eine aktive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, in der für die Innenstadt und ihre Angebote geworben wird.
Mit Stand April 2021 konnten bisher 25 Zwischennutzungsprojekte in 12 unterschiedlichen Immobilien umgesetzt werden. Eine davon ist der Pop-up Pavillon am Alten Markt. Eine rund 80qm große Fläche, die das IM seit März 2019 gemeinsam mit dem Referat Kreative Stadt angemietet hat und kostenfrei weitergeben kann. In dieser Fläche allein konnten bis jetzt 30 einzelne Zwischennutzungsprojekte beheimatet werden.
Weitere Erfolgsprojekte sind das „Wohlfühl-Kaufhaus“ Kosmos mitten in der Hauptfußgängerzone sowie das in 2018 eingeführte Fahrtkosten-Rückerstattungssystem Parken Plus.
Roland Wölfel ist Geschäftsführer der CIMA Beratung + Management GmbH (cima), einem bundesweiten Kompetenzzentrum für die Zukunft von Städten und Regionen im gesamten deutschsprachigen Raum. Sie ist Anlaufstelle bei allen Fragen zur Stadtentwicklung. Mit 85 Mitarbeitenden unterhält das Beratungsunternehmen Standorte in München, Stuttgart, Forchheim, Frankfurt am Main, Leipzig, Lübeck, Köln und Ried (A). www.cima.de
Die größten Unternehmen in den Regionen als Excelliste
NEU: Eine Liste mit den 1.000 größten Unternehmen in jeder Region ist im DDW-Leserdienst mit der Master-Datenbank „Top-1.000 regional“ erhältlich. Hier zur Bestellung
Einen Gesamtüberblick über alle DDW-Rankings und Datenbanken finden Sie hier.
Schreibe einen Kommentar