Die Macht des Verständnisses für die Bedürfnisse der anderen

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Gute Führungskräfte müssen die menschlichen Grundbedürfnisse ihrer Teams erforschen, damit sie gemeinsam größere Erfolge erzielen können. So geht’s.

Von Julie Battilana und Tiziana Casciaro für I by IMD, der Wissensplattform des IMD

Vielen Führungskräften fällt es schwer herauszufinden, was ihre Teams wirklich wollen. Hierarchiegefälle und Autorität hindern Menschen daran, sich zu öffnen. Die Folge ist häufig, dass Führungskräfte ihre Teams nicht gut genug kennen und ihnen dementsprechend nicht ausreichend Aufmerksamkeit widmen. 

Doch wer eine bessere Führungskraft werden will, muss herausfinden, was den Menschen wirklich wichtig ist. Das ist eine Frage von Verantwortung und Macht. Macht definieren wir als die Fähigkeit, das Verhalten anderer zu beeinflussen. Aber wie entsteht Macht? Die Antwort ist überraschend einfach. Wer einen Menschen beeinflussen möchte, braucht Zugriff auf Ressourcen, die dieser Mensch schätzt. Zuallererst muss daher die Frage beantwortet werden: Was ist diesem Menschen wichtig?

Wir sagen Studenten und Führungskräften immer, dass man keine Menschen führen kann, die man nicht versteht. Damit Führung funktioniert, muss man Menschen motivieren, bestimmte Ziele zu verfolgen und sich für bestimmte Aufgaben zu engagieren. Sie werden nicht bereit sein, ihre Energie und ihr Bestes für ein Ziel einzusetzen, das sie nicht erstrebenswert finden. Zu verstehen, was die Menschen wollen, ist damit der Kern des Führungsprozesses, und eine gute Führungskraft ist sich dessen bewusst.

Doch Achtsamkeit allein reicht nicht aus, um die Beweggründe eines Menschen zu durchschauen. Wir sind komplizierte Wesen! Und unsere Wünsche, was wir wollen und brauchen, sind vielschichtig. Sie verändern sich mit der Zeit und von Mensch zu Mensch. Lebensziele ändern sich je nach Lebens- oder Berufsphase, so dass es einer präzisen Beobachtung und echten Interesses bedarf, um diese Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen. Um herauszufinden, worauf Menschen Wert legen, bedarf es eines Leitfadens durch die komplizierte Welt der menschlichen Motivation, und genau das bieten wir in unserem Buch „Power for All: Wie Macht wirklich funktioniert und warum sie uns alle angeht“.

Ein solcher Leitfaden ist äußerst wichtig, denn selbst wenn man Menschen fragt, was sie brauchen, sagen sie es nicht immer. Es gibt jedoch Dinge, die Sie als Führungskraft tun können, um sich selbst zu helfen.

Zunächst ist festzuhalten, dass es einige grundlegende Dinge gibt, die Menschen zuverlässig wollen oder brauchen. Das weist Ihnen schon mal die richtige Richtung. Sobald Sie diese festgestellt haben, ist es Ihre Aufgabe, sich mit den Besonderheiten einer bestimmten Person oder Gruppe in einem bestimmten Moment zu befassen, und zu verstehen, wie genau sich Menschen diese Bedürfnisse und Wünsche erfüllen.

Die zwei Dinge, die jeder schätzt

Wenn man sich ansieht, was über die menschliche Motivation und die menschliche Natur geschrieben und erforscht wurde, stößt man auf eine Fülle von tiefgreifenden Überlegungen, von Philosophen bis hin zu Neurowissenschaftlern, von Biologen bis zu Psychologen und Soziologen. Auf der Grundlage dieses umfangreichen Wissens haben wir einige der von uns beobachteten Gemeinsamkeiten herausgearbeitet.

Unsere Analyse zeigt, dass es zwei Grundbedürfnisse gibt, die jeden von uns beseelen. Das eine ist intuitiv: das Bedürfnis nach Sicherheit. Wir alle müssen uns vor Schaden geschützt fühlen. Das andere ist das Selbstwertgefühl. Wir wollen das Gefühl haben, dass wir etwas wert sind, dass wir nicht nur einer von Milliarden von Menschen sind, die auf der Erde wandeln, dass unsere Existenz etwas bedeutet, für jemanden von Bedeutung ist, dass sie einen Wert hat.

Diese beiden Triebkräfte des menschlichen Verhaltens, das Bedürfnis nach Sicherheit und das Bedürfnis nach Selbstwertgefühl, sind immer im Spiel, wenn Sie die Führungsrolle übernehmen. Sie sind der Anker. Die Menschen, die Sie führen, werden mit Sicherheit von diesen beiden Bedürfnissen geprägt sein. Schwierig ist, dass sich die Art und Weise, wie Menschen diese Bedürfnisse befriedigen, je nach Situation ändert, und dass Menschen nicht unbedingt offenbaren, wie sie diese Bedürfnisse erfüllen wollen – manchmal wissen sie es selbst nicht.

Aber es gibt Regelmäßigkeiten, worauf Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Selbstwertgefühl reagieren.

Die sechs Ressourcen, die Menschen suchen, um sich sicher und wertvoll zu fühlen

Menschen schätzen materielle Ressourcen – Geld und Eigentum –, denn sie bedeuten Sicherheit. Geld verleiht zudem Wertschätzung, weil es zeigt, dass man etwas geleistet hat. Es kann einem das Gefühl geben, denjenigen überlegen zu sein, die weniger haben, und verleiht sozialen Status – eine weitere Ressource, die Menschen sehr schätzen. Die Anziehungskraft von materiellen Ressourcen und Status ist universell. Aus diesem Grund sind Arbeitsplatzsicherheit und Vergütung wichtige Motivatoren. Und deshalb sind ausgefallene Jobtitel, Eckbüros und sogar rein symbolische Anerkennungen wie die Ernennung zum „Mentor des Jahres“ für die Menschen so wichtig: Sie geben ihnen das Gefühl, etwas Besonderes und damit wertvoll für Ihre Organisation oder Ihr Unternehmen zu sein.

Aber die Menschen schätzen mehr als Geld und Prestige. Auch andere, eher psychologische Ressourcen ermöglichen es, das Grundbedürfnis nach Sicherheit und Selbstwertgefühl zu erfüllen.

Eine davon ist Kompetenz, das Gefühl, etwas erreicht zu haben, etwas gut zu machen, sich zu verbessern und zu lernen. Wenn Sie den Menschen, die Sie führen, das Gefühl geben, dass sie ihre Kompetenzen erweitern und ihre beruflichen Fähigkeiten verbessern, dann haben Sie Einfluss auf sie. Sie kontrollieren eine Ressource, die sie sehr schätzen: das Gefühl, etwas immer besser zu beherrschen und etwas zu erreichen. Studien zeigen, dass Fortschritt eine wichtige Quelle der Motivation für Menschen bei der Arbeit ist. Eine Führungskraft, die ihren Mitarbeitern das Gefühl verleiht, sich weiterzuentwickeln, wird Einfluss auf ihr Verhalten haben.

Menschen brauchen zudem das Gefühl, mit anderen in Beziehung zu stehen: Sie brauchen Zugehörigkeit. Wenn jemand das Gefühl hat, dass man sich umeinander kümmert, gibt es das Gefühl von Sicherheit. Denn Menschen, die sich mögen, werden ihr Bestes tun, um sich gegenseitig zu schützen. Und wenn man selbst gemocht wird, verleiht es das Gefühl, dass man der Wertschätzung würdig ist. Das Marktforschungsunternehmen Gallup hat wiederholt festgestellt, dass der größte Einflussfaktor für die Entscheidung eines Mitarbeiters in einem Unternehmen zu bleiben, seine positive Antwort auf die Frage ist: „Haben Sie einen besten Freund bei der Arbeit?“ Mitarbeiter legen mehr Wert auf Zugehörigkeit am Arbeitsplatz, als vielen Managern bewusst ist.

Menschen haben ein Bedürfnis nach Autonomie. Sie werden sich bei ihrer Arbeit für Sie und Ihr Unternehmen viel wohler fühlen, wenn sie selbst Entscheidungen treffen und über die beste Vorgehensweise bestimmen können. Mitarbeiter, die ihre Vorgesetzten als autonomiefördernd wahrnehmen, sind zufriedener als diejenigen, die wenig oder gar keine Kontrolle über ihr Arbeitsleben haben. Diese Zufriedenheit schlägt sich nicht nur in einer besseren Leistungsbewertung, sondern auch in einer gesünderen Psyche nieder. Umgekehrt wirkt sich ein Mangel an Autonomie negativ auf die körperliche und geistige Gesundheit der Mitarbeiter aus. Die Achtung der Autonomie anderer ermöglicht es Managern, ihre Mitarbeiter zu motivieren, Lehrern, ihre Schüler zu engagieren, und Eltern, Kinder zu haben, die mit ihnen reden.

Schließlich wollen sich die Menschen auch in moralischer Hinsicht würdig fühlen. Sie wollen das Gefühl haben, gute Menschen zu sein. Das Bedürfnis nach Moral und die Art und Weise, wie es sich manifestiert, variiert je nach Kultur und Zeit. Es ist auch eine Frage der persönlichen Reife. Wenn Ihre Mitarbeiter jedoch das Gefühl haben, dass ihre Arbeit nicht nur für sie selbst von Bedeutung ist, dass sie Dinge tun, die auch anderen zugute kommen, dann nährt dies das Bedürfnis nach Moral, das wir alle in uns tragen. Manchmal unterdrücken und vergraben wir es, weil wir so sehr mit den materiellen Bedürfnissen unserer Unternehmen und unseres Lebens beschäftigt sind. Aber das Bedürfnis der Menschen, moralisch richtig zu handeln, ist für Führungskräfte von entscheidender Bedeutung – und zwar in zunehmendem Maße. Die „2019 Global Millennials“-Umfrage von Deloitte hat ergeben, dass sich Millennials in ihren Erwartungen an die Geschäftswelt von früheren Generationen unterscheiden: Rund 40 Prozent der Befragten haben ihre Beziehung zu einem Unternehmen auf der Grundlage seiner sozialen Auswirkungen und seiner ethischen Grundsätze gestärkt oder geschwächt.

Was, wenn sie Ihnen nicht sagen wollen, was sie schätzen?

Die genannten Aspekte sind verlässliche Faktoren, die Menschen suchen. Die Frage für Sie ist, wie sich diese Aspekte in den Menschen manifestieren, die Sie gerade führen. Oft sind Führungskräfte bei der Klärung dieser Frage auf sich allein gestellt, weil sich die Mitarbeiter vielleicht nicht trauen, offen zu sein, und der Führungskraft zu sagen, was sie wirklich wollen. Und selbst wenn sie offen sagen, was sie wollen, haben sie ihre tiefsten Bedürfnisse vielleicht noch nicht ganz durchschaut, weil sie ihre Hausaufgabe der Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis noch nicht gemacht haben.

Um diese Kluft zwischen gefühlten und ausgedrückten Bedürfnissen zu überwinden, müssen Sie sich das Vertrauen der Menschen verdienen. Es gibt zwei Formen von Vertrauen, an denen man kulturübergreifend beurteilt wird: Kompetenz und menschliche Wärme.

Beides steht in direktem Zusammenhang mit den Grundbedürfnissen nach Sicherheit und Selbstwertgefühl. Kompetenz hat damit zu tun, ob Ihre Mitarbeiter auf Ihre Leistungsfähigkeit vertrauen. Wenn sie sich von kompetenten Menschen umgeben fühlen, die zuverlässig gute Arbeit leisten, haben sie das Gefühl, sich sicher und erfüllt fühlen zu können – beides Komponenten des Selbstwertgefühls.

Vertrauen in Fähigkeiten ist nicht die einzige Form von Vertrauen, die wir brauchen, um uns sicher und unterstützt zu fühlen. Die andere ist menschliche Wärme, also das Vertrauen in die guten Absichten des anderen. Können Ihre Mitarbeiter darauf vertrauen, dass Sie es gut meinen, dass Sie ihnen nicht in den Rücken fallen, sobald sie sich umdrehen, und dass Sie meinen, was Sie sagen? Wenn Sie die richtigen Absichten haben, vertrauen Ihre Mitarbeiter darauf, dass Sie ihnen den Rücken freihalten. Ein weiterer Aspekt: Von Menschen umgeben zu sein, denen man wichtig ist, erzeugt ein Gefühl von Zugehörigkeit.

Umsetzung der Theorie in die Praxis

Wenn Sie herausfinden wollen, was Menschen wirklich wollen, aber als Führungskraft kein gutes Gespür dafür haben, sollten Sie anfangen, zuzuhören. Und zwar immer in Hinblick auf beide Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Selbstwertgefühl und die sechs Ressourcen, die dazu beitragen, sie zu erfüllen: Geld, Status, Leistung, Zugehörigkeit, Autonomie und Moral. Beobachten Sie gut und Sie werden viel mehr darüber herausfinden, was die Menschen wollen, als sie selbst bereit sind zu äußern. Sie können sich darauf verlassen, dass eine Kombination dieser Ressourcen für die Person, die Sie vor sich haben, zu jedem Zeitpunkt von Bedeutung ist. Das ist wie eine Landkarte, mit der man schneller und besser ans Ziel kommt.

Schließlich müssen Sie entscheiden, wie Sie diese Karte verwenden und welche Macht sie Ihnen gibt. Als Führungskraft müssen Sie sich daran erinnern oder lernen, dass es nicht nur darum geht, die Menschen, die Sie führen, zu verstehen, damit Sie Ihre Macht gut einsetzen können. Sie müssen auch sich selbst verstehen, und das erfordert Selbsterkenntnis. Was wollen Sie? Welche Ressourcen sind für Sie am attraktivsten, um Ihr eigenes Bedürfnis nach Sicherheit und Selbstwertgefühl zu erfüllen? Und wie werden Sie Ihre Macht nutzen, um die Menschen, die Sie führen, zu stärken? Wir hoffen, dass unser Buch Ihnen helfen wird, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und die Art von Führungskraft zu werden, die Sie gern sein möchten. Oder, noch besser, die Art von Führungskraft, von der andere geführt werden wollen.

Reihe “I by IMD”
Das renommierte International Institute for Management Development (IMD) ist eine der weltweit führenden Akademien für Führungskräfte und Organisationen. So gehört das IMD seit 2012 kontinuierlich zu den Top 3 im weltweiten Financial Times (FT) Executive Education Ranking und zählt seit mehr als 15 Jahren zu den Top 5. Mit dieser Artikelreihe eröffnet DDW seinen Lesern exklusiven Zugang zu ausgewählten Themen durch umfassende Insights und Beiträge führender IMD-Experten. Mehr zu den Möglichkeiten bei IMD

Wie eine Führungskraft dem Ruf ihrer Arbeiter folgte

In Power for All erzählen wir die Geschichten von Menschen, die auch in schwierigen Situationen herausfanden, was die Menschen unter diesen Umständen besonders schätzten. Sie haben außergewöhnliche Erfolge erzielt, nicht nur zum Wohl des Unternehmens, sondern auch zum Wohl der Mitarbeiter, indem sie ihre Arbeitsbedingungen verbesserten. Das kann wunderbar erfüllend sein, denn wir verbringen viel Zeit in unseren Unternehmen, und wir müssen diese Zeit sinnvoll gestalten.

Eine dieser Geschichten ist besonders aufschlussreich. Darin geht es um einen jungen Manager, der seinen MBA-Abschluss absolviert und eine Stelle als strategischer Berater für die Call Center eines Unternehmens erhält. Strategischer Berater ist nicht die Art von Position, die viel Einfluss verschafft. Es klingt vielleicht nett, weil das Wort „strategisch“ das Gefühl verleiht, wichtig zu sein. Aber es ist eine Rolle, die oft mit keinerlei formalen Befugnissen verbunden ist, so auch in diesem Fall. Dieser Manager stand also vor der Herausforderung, den Call Centern dabei zu helfen, besser zu arbeiten (denn das taten sie nicht), ohne die Möglichkeit zu haben, das Verhalten der Call Center-Agenten oder des Managers zu diktieren. Er musste ohne Autorität Einfluss nehmen. Er hatte keine Möglichkeit, ihre Vergütung zu ändern, da diese auf Unternehmensebene festgelegt war. Er konnte wirklich nur wenig für sie tun, aber er musste einen Weg finden.

Er hat unseren Rahmen brillant angewandt. Wenn Sie sich ein wenig mit Call Centern auskennen, wissen Sie: Das Sicherheitsgefühl und das Selbstwertgefühl gehen an einem solchen Ort schnell verloren. Es ist schwer, sich sicher zu fühlen, wenn die Anrufer einen anschreien, und das tun sie häufig. Niemand ruft im Call Center an, um zu sagen: „Oh, ihr seid alle fabelhaft! Ich habe nur angerufen, um euch zu sagen, wie wunderbar ihr seid.“ Das ist hart. Und man fühlt sich selbst nicht besonders gut, weil man die Kunden oft nicht glücklich machen kann und nicht besonders gut bezahlt wird. Es ist eine ermüdende und entfremdende Arbeit.

Der neu ernannte strategische Berater wusste, dass die Bedürfnisse der Mitarbeiter nach Sicherheit und Selbstwertgefühl nicht erfüllt wurden. Die Frage für ihn war, wie er sie erfüllen konnte.

Er begann, eines der Call Center zu besuchen. Er sprach mit den Menschen, um herauszufinden, was er zur Verbesserung der Arbeitsmoral tun konnte. Er war nicht nur dort, um mehr Geld für das Unternehmen zu verdienen, er wollte wirklich helfen. Aber seine Fragen wurden mit „Mucksmäuschen-Stille“ beantwortet, wie er es uns gegenüber ausdrückte, sobald er das Call Center betrat. Hier kommt der Mangel an Vertrauen ins Spiel. Er kam von der Zentrale, und die Leute von der Zentrale kamen meistens in ihren Geschäftsanzügen und wollten Dinge ändern, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter zu nehmen, so dass niemand seine Fragen beantworten wollte.

Aber egal, wie wenig Autorität Sie haben, egal, wie zurückhaltend die Menschen, die Sie führen wollen, anfangs sein mögen, es gibt Dinge, die Sie tun können, um ihr Vertrauen zu gewinnen, ihre Bedürfnisse zu entdecken und gute Arbeit zu leisten.

Das hat er getan. Er fing an, einen Tag pro Woche in dem ersten Call Center zu arbeiten, dem er zugewiesen wurde. Er tauchte einfach auf. Er tauschte den Geschäftsanzug gegen Freizeitkleidung, wie alle anderen im Call Center. Und er setzte sich auf einen der Schreibtische in der Mitte des Raumes, um präsent zu sein und das Team an seine Anwesenheit zu gewöhnen. Er hatte Recht: Die sozialwissenschaftliche Forschung zeigt eindeutig, dass wir Menschen, die wir kennen und denen wir ähnlich sind, freundlicher begegnen. Das liegt daran, dass Vertrautheit und Ähnlichkeit die Unsicherheit in Bezug auf das Verhalten und die Absichten der anderen Person verringern, was es uns leichter macht, uns auf eine Beziehung einzulassen.

Zunächst waren die Agenten misstrauisch. „Was macht er hier? Was will er?“ Aber nach ein paar Wochen trat eine Veränderung ein. Die Agenten bekamen ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn ignoriert hatten, und sie baten ihn, mit ihnen in die Mittagspause zu gehen. Langsam brach das Eis. Als er die Agenten kennenlernte, erfuhr er ein paar Dinge darüber, was sie brauchten, um ihre Arbeit besser zu machen. Es gab ein Skript für die Beantwortung bestimmter Kundenanrufe, das schlecht konzipiert war, und es den Agenten schwer machte, die Kunden zufrieden zu stellen. Er nutzte sofort sein Netzwerk im Unternehmen, um das Skript über Nacht ändern zu lassen. Auf diese Weise lieferte er den Call-Center-Agenten etwas Wertvolles, was ihnen bewies, dass sie nicht nur seinen Absichten, sondern auch seiner Fähigkeit, etwas für sie zu leisten, vertrauen konnten. Er tat dies immer wieder, sobald ihm etwas einfiel, was er tun konnte, um den Agenten ein Erfolgserlebnis zu verschaffen und ihre Sicherheit zu erhöhen, indem er die Zufriedenheit der Kunden mit ihrer Arbeit verbesserte.

Und das war noch nicht alles. Indem er mehr Zeit mit den Agenten verbrachte, erfuhr er auch, dass die meisten von ihnen Interessen und Hobbys, Nebengeschäfte und Zweitjobs hatten, die sie mehr erfüllten als ihr Call-Center-Job. Vielleicht hatten sie eine kleine Gärtnerei, konnten gut backen oder arbeiteten ehrenamtlich in einem Tierrettungszentrum. Er schlug ihnen vor, anstelle der Nachrichten auf dem Fernseher in der Cafeteria Diashows oder Videos von Dingen zu zeigen, die die Agenten außerhalb ihrer Arbeit taten und auf die sie stolz waren. Zuerst wollte niemand etwas davon machen. Doch dann traute sich der erste Agent, Bilder aus dem Teil seines Lebens zu zeigen, der ihm besonders wichtig war. Damit brach das Eis. Die Call-Center-Agenten begannen, Aspekte ihres Lebens zu zeigen, die Wertschätzung verdienen, weil sie etwas Gutes taten oder etwas besonders gut konnten.

All diese Maßnahmen dienten dazu, das Vertrauensproblem zu lösen. Die Agenten vertrauten ihm nun, dass er die richtigen Absichten hatte und in der Lage war, sie auch zu erfüllen. Und im Laufe der Zeit lernte er, was sie motivierte. Er war sehr aufmerksam für jede noch so kleine Information, die er darüber sammelte, wie er den Agenten helfen konnte, und er half sofort und zuverlässig, wann immer er konnte.

Innerhalb von sechs Monaten verdoppelten sich alle Leistungskennzahlen des Call Centers und das Engagement der Mitarbeiter stieg sprunghaft an. Er war so gut darin, dass er gebeten wurde, dieses Wunder in allen Call Centern des Unternehmens zu wiederholen.

Mehr zum Thema:

IMD – International Institute for Management Development ist eine private internationale Wirtschaftshochschule mit Sitz in Lausanne (Schweiz) und Singapore. Jährlich lassen sich über 11.000 Führungskräfte und 170 global operierende Unternehmen mit maßgeschneiderten Schulungs- und Entwicklungsprogrammen in den Bereichen Leadership, Management, Digitalisierung und Wertschöpfung weiterbilden.

Julie Battilana ist Joseph C. Wilson-Professorin für Betriebswirtschaftslehre in der Abteilung für Organisationsverhalten an der Harvard Business School und Alan L. Gleitsman-Professorin für soziale Innovation an der Harvard Kennedy School, wo sie auch die Gründerin und Vorsitzende der Initiative für soziale Innovation und Wandel ist.

 

 

Tiziana Casciaro ist Professorin für Organisationsverhalten und Marcel Desautels für Integratives Denken an der Rotman School of Management der Universität von Toronto.

 

 

“Power for All: Wie Macht funktioniert, wie sie uns nützt und weshalb das alle etwas angeht” von Julie Battilana und Tiziana Casciaro, ist am 16. Mai 2022 im Ariston Verlag erschienen. Hier mehr erfahren.

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