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Drei Prioritäten zur schnelleren Dekarbonisierung der Industrie
Die Pandemie hat gezeigt, dass die Menschheit mit technologischer Hilfe in der Lage ist, sich schnell an neue Realitäten anzupassen. Das ist auch gut so, denn wir stehen vor einer weiteren enormen Herausforderung, bei der wir schnell handeln müssen: dem weltweiten Klimawandel. Laut dem Weltklimarat (IPCC) läuft uns die Zeit davon, um das Ausmaß der Erderwärmung zu begrenzen.
Von Dr. Roland Busch
Die Industrie ist ein Treiber für Wirtschaftswachstum und Wohlstand und erwirtschaftet rund ein Viertel des weltweiten BIP. Dieses Wachstum hat jedoch seinen Preis. Etwa 30 Prozent der globalen Emissionen entstehen durch die Produktion der Güter, die wir für unseren Alltag benötigen.
Wenn wir die Weichen für eine nachhaltigere Welt stellen wollen, müssen wir die Transformation unserer Wirtschaft vorantreiben. Das ist sicherlich eine Herkulesaufgabe. Ich bin jedoch überzeugt: Wenn wir unsere Bemühungen auf drei Prioritäten konzentrieren, können ganze Wirtschaftszweige die Dekarbonisierung vorantreiben und nachhaltiges Wachstum erzielen. Diese Prioritäten lauten: die Digitalisierung von Industrien, eine engere Zusammenarbeit mit Partnern und die Umsetzung einer intelligenten Politik.
I. Nachhaltige Technologien fördern auch die Wettbewerbsfähigkeit
Technologien können uns helfen, das Rückgrat unserer Wirtschaft grundlegend zu transformieren. Aus der Verbindung der realen mit der digitalen Welt ergeben sich neue, datengestützte Erkenntnisse, die Industrien helfen, intelligenter und effizienter zu werden und Ressourcen zu schonen.
Dies ist ein Durchbruch für energieintensive Unternehmen wie Gestamp, deren Energie- und Betriebskosten eng miteinander verknüpft sind. Hier steht das Maß an Energieeffizienz im direkten Verhältnis zu den positiven Auswirkungen auf die Geschäftszahlen und das Klima. Der spanische Automobilzulieferer Gestamp konnte seinen Energieverbrauch und seine CO2-Emissionen um 15 % senken, indem er 20 seiner Fertigungsanlagen mit einer cloudbasierten Energieeffizienz-Plattform verband, die mehrere Millionen Datenpunkte in Echtzeit auswertet.
In der heutigen Welt reicht es allerdings nicht aus, bestehende Prozesse effizienter zu gestalten. Wir müssen darüber nachdenken, wie sich mit weniger Ressourcen mehr erreichen lässt – und was mit einem Produkt am Ende seines Lebenszyklus passiert. Kurzum: Wir müssen unsere Welt im Hinblick auf Nachhaltigkeit transformieren.
Bei der Neuentwicklung unseres für den Regionalverkehr ausgelegten Zugs Mireo haben wir uns deshalb mit Kunden wie der Deutschen Bahn zusammengeschlossen und deren Nachhaltigkeitsherausforderungen zum Kernthema gemacht. Dieser Zug verbraucht nicht nur 25 Prozent weniger Energie – er kann auch auf Strecken, die noch nicht elektrifiziert sind, mit Batterie- oder Wasserstoffantrieb betrieben werden. Damit unterstützt er Bahngesellschaften beim Erreichen ihrer Dekarbonisierungsziele. Am Ende des Lebenszyklus können 95 Prozent der Zugteile recycelt werden.
Die Kraft zur Transformation
Mit Technologien wie dem digitalen Zwilling sind wir in der Lage, die Entwicklung unserer Produkte und die dazugehörigen Produktionsprozesse komplett neu zu denken. Bevor ein Produkt, eine Maschine oder eine Anlage überhaupt gebaut wird, können wir dessen Design und Leistung virtuell optimieren. Im Verlauf des Lebenszyklus eines Produkts in der realen Welt können wir Rückmeldedaten nutzen, um den Betrieb zu optimieren und künftige Entwicklungen weiter zu verbessern.
Mehr Nachhaltigkeit in der Entwicklung bringt nicht nur Vorteile für den Kunden, sondern auch für die Hersteller. Derzeit wird uns allen die Anfälligkeit unserer Lieferketten vor Augen geführt. Jede Verspätung bei der Lieferung eines Bauteils oder eines Produkts kann die Produktion zum Stillstand bringen.
Die additive Fertigung von Gütern dort, wo sie gebraucht werden, steigert die Resilienz eines Unternehmens, vermeidet Emissionen durch den weltweiten Versand der Produkte und ebnet den Weg für neue Geschäftsmodelle.
Der Brillenhersteller You Mawo produziert individuelle Brillen im 3D-Druck. Dadurch hat er einen Wettbewerbsvorteil gegenüber konventionellen Herstellern und eine um 58 Prozent geringere CO2-Bilanz, weil bei dieser Fertigungsmethode weniger Abfall anfällt.
Insgesamt lassen sich mithilfe der additiven Fertigung Materialeinsparungen und Gewichtsreduktionen von über 50 Prozent erzielen. Das Potenzial für Energieeinsparungen in der globalen Fertigungsindustrie und vor allem in der Luft- und Raumfahrt ist erheblich.
II. Zusammenarbeit mit Partnern zur Senkung von CO2-Emissionen in der Lieferkette
Auch wenn Unternehmen die Möglichkeit haben, durch technologischen Einsatz nachhaltiger zu werden, besteht die größte Herausforderung immer noch darin, den CO2-Ausstoß in der Lieferkette zu reduzieren, denn dort entstehen über 90 % der Emissionen.
Die Dekarbonisierung von Lieferketten ist in der Tat keine leichte Aufgabe, vor allem, weil vielen Unternehmen die Transparenz über ihre Lieferanten fehlt.
Das ist auch verständlich. Bei Siemens haben wir mehr als 65.000 Zulieferer, die ihrerseits mit zahllosen Lieferanten zusammenarbeiten. Man stelle sich vor, für jede einzelne Komponente und ihre zahllosen Einzelteile Daten aus den verschiedenen Ebenen der Zulieferpyramide erfassen und zusammentragen zu müssen.
Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Software-Anwendungen wie SiGREEN, die auf der Blockchain-Technologie basiert, ermöglicht Unternehmen die Suche, Berechnung und den sicheren Austausch der Daten zu den Umweltauswirkungen ihrer Produkte – von der Rohstoffgewinnung bis zum Lebenszyklusende.
Wenn Unternehmen besser verstehen, wo ihre Emissionen entstehen, können sie gemeinsam mit ihren Lieferanten Strategien zu Emissionseinsparungen entwickeln.
Einer unserer Ansätze ist der sogenannte Green Digital Twin. Dieser digitale Zwilling umfasst ein Modell unserer gesamten Lieferkette, einschließlich der damit verbundenen Materialien, Prozesse und Ressourcen. Mithilfe exakter Simulationen können wir unterschiedliche Szenarien analysieren, um den Fußabdruck unserer Produkte und Lösungen gemeinsam mit unseren Partnern zu verringern. Unser Ziel ist es, unsere Supply-Chain-Emissionen bis 2030 um 20 % zu senken und bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen.
Unternehmen aus der gesamten Industrie stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Deshalb macht es Sinn, sich zusammenzuschließen. Die Net-Zero in Manufacturing and Value Chains Initiative des Weltwirtschaftsforums, an der sich auch Siemens beteiligt, arbeitet gemeinsam mit führenden Industrieunternehmen an einer schnelleren Einführung innovativer Technologien zur Erreichung der Netto-Null-Ziele.
III. Eine intelligente Politik zum schnelleren Einsatz klimafreundlicher Technologien
Der Kampf gegen den Klimawandel kann nicht von einem Unternehmen, Sektor oder Land allein gestemmt werden. Politik und Industrie müssen zusammenarbeiten, um den Umbau der Wirtschaft zu beschleunigen.
Mehr als 70 Länder, einschließlich der EU, haben das Ziel ausgerufen, bis spätestens 2050 klimaneutral zu werden. Die aktuellen Maßnahmen reichen dazu jedoch nicht aus. Mit einer intelligenteren Politik, die den Wandel vorantreibt und den Einsatz neuer Technologien beschleunigt, lassen sich die Chancen allerdings verbessern.
Die Bepreisung von CO2 schafft einen Anreiz für Unternehmen, ihre betrieblichen Abläufe zu dekarbonisieren. Die Erlöse daraus können genutzt werden, um Innovationen und Investitionen in klimafreundliche Technologien zu fördern. Die CO2-Bepreisung kann jedoch nur dann einen echten Wandel bewirken, wenn der Preis ausreichend hoch ist und alle Sektoren eingebunden werden.
Heute unterliegen nicht einmal 20 Prozent der weltweiten Emissionen einem CO2-Preis. Der Environmental Defense Fund geht davon aus, dass ein globaler Emissionsrechtehandel die Kosten für die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens um 79 Prozent senken und faire Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmen schaffen könnte.
Technologie ist der Schlüssel zu Netto-Null
Dies ist das entscheidende Jahrzehnt im Kampf gegen den Klimawandel. Klimaneutralität zu erreichen, wird nicht einfach sein. Dazu bedarf es einer engeren Zusammenarbeit und einer intelligenteren Politik.
Die gute Nachricht ist: Die digitale Transformation gibt uns einen Vorsprung. Die Technologien, die Effizienz, Produktivität und Transparenz steigern, können auch den Weg in eine resilientere und nachhaltigere Zukunft ebnen.
Dr. Roland Busch ist Vorstandsvorsitzender der Siemens AG
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