Deutsche Aufholjagd – ein praktisches Beispiel

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Wenn wir uns nur in Europa umsehen, stellen wir fest, dass wir beim Wachstum wieder Schlusslicht sind. Unsere Erwartungen, gemessen an dem sogenannten Potentialwachstum, sind ebenfalls nicht besonders gut.

Von Professor Dr. h.c. mult Roland Koch

Wir stehen trotzdem vor hohen finanziellen Herausforderungen, denn wir müssen eine außergewöhnliche und auch außergewöhnlich teure Energiepolitik finanzieren, eine nur eingeschränkt einsatzfähige Bundeswehr – angesichts der Bedrohung durch Russland – möglichst schnell auf- und ausrüsten und eines der umfänglichsten Sozialsysteme der Welt bezahlen. Viele Bürger, denen es aktuell noch gut geht, sehen das inzwischen mit Sorge, und das ist einer der Gründe für die Unzufriedenheit der Deutschen mit der Politik.

Das digitale Estland bleibt eine Mahnung

Wir müssen die Dynamik der Wirtschaft wieder beschleunigen, mehr arbeiten und mehr Geld verdienen. Aber auch das ist nur sinnvoll, wenn wir auf den Märkten Europas und der Welt Produkte und Dienstleistungen anbieten können, die neu sind oder zumindest absolut auf der Höhe der Zeit. Diese Herausforderung erfordert radikale Schritte, denn wir haben so manches Rennen bereits verloren. Ich möchte das am Beispiel der Digitalisierung und dem Vergleich mit Estland erläutern.

Nehmen wir als Schlüssel für alle guten digitalen Interaktionen die einheitliche Personalnummer. Die Einführung der ID-card und der digitalen Signatur 2002 war ein bedeutender Schritt bei der Digitalisierung in Estland. Die nationale ID-card erlaubt einen sicheren digitalen Zugriff auf alle elektronischen Dienstleistungen. Darüber hinaus können sich alle Bürger Estlands per elektronischer Signatur über diese ID-card sicher identifizieren.

Seit 15 Jahren heben wir unsere Potentiale nicht

Zwar hat Deutschland im November 2009 ebenfalls den elektronischen Personalausweis eingeführt. Dieser könnte vergleichbar mit der estnischen ID-card als Generalschlüssel für alle Online-Dienstleistungen fungieren. Aber was haben wir daraus gemacht? Drei Viertel aller Deutschen haben die entsprechende Funktion nicht freigeschaltet und bis heute (2024!) gibt es praktisch keine wirklich nützlichen Alltagsanwendungen. Das Online-Zugangsgesetz ist in der ersten Runde bis heute zu großen Teilen gescheitert.

Bereits 2010 führte Estland mit e-Prescription ein zentralisiertes, papierloses System zum Ausstellen und Verwalten medizinischer Verschreibungen ein. Auch dabei benötigt ein Patient in der Apotheke lediglich seine ID-card und nicht etwa eine spezielle Gesundheits-Karte, mit deren Hilfe der Apotheker die verschriebenen Medikamente dem System entnehmen kann. Deutschland ist vor wenigen Wochen erst gestartet, und alle lamentieren über Einführungsprobleme und Kosten. Mit 15 Jahren Verspätung werden wir es – vielleicht – schaffen. Darüber hinaus hat in Estland jeder seinen Online-Gesundheitsbericht, auf den sowohl Patienten als auch Ärzte oder Krankenhäuser im Bedarfsfall Zugriff haben. Dieser wichtige Schritt zu einer besseren Behandlung, einer besseren Dokumentation und einer wirksamen Vermeidung von Mehrfachuntersuchungen wird in Deutschland seit vielen Jahren immer wieder verschoben.

Auf dem System der ID-card aufbauend gibt es in Estland seit 2007 die Mobile-ID. Seitdem können alle Esten ihr Smartphone wie die ID-card zur Identifizierung ihrer Person, für den Zugriff auf e-Dienstleistungen und zum digitalen Unterzeichnen von Dokumenten nutzen, ohne dass ein Lesegerät notwendig wäre. In Deutschland gibt es erste Ansätze. So kann das Smartphone mit Fingerprint-, Face-ID , etc. im Rahmen der Zwei-Faktor-Authentifizierung seit 2019 z. B. bei Zahlungsdienstleistungen als Identifikationsmerkmal genutzt werden. Mehr aber auch nicht. Obwohl Sie auch in Deutschland Fahrkarten per Smartphone kaufen können, funktioniert das System bisher eigentlich nur bei der Bahn. Denn die meisten Busse, Straßen- und U-Bahnen verfügen noch nicht über entsprechende genormte Lesegeräte, die die digitalen Fahrkarten beim Einstieg überprüfen können.

Wahlen, Schulen, Banken – wo ist das digitale Deutschland?

Natürlich gibt es noch weit mehr Bereiche innerhalb der e-Governance. So z. B. e-School – eine Plattform, auf der Lehrer, Eltern und Schüler alle notwendigen Informationen organisieren können und die die Zusammenarbeit erleichtert. Obwohl es auch in Deutschland inzwischen „Bank-übergreifende“ Angebote wie Google Pay für Android- und Apple Pay für iOS-Smartphones gibt, möchte jede Bank doch lieber eine eigene Bezahl-App auf den Markt bringen und lehnen selbst eine Kooperation mit einem deutschen „neutralen“ System ab.

Und elektronische Wahlen? Schon 2005 war Estland weltweit der erste Staat, der elektronische Wahlen ermöglichte (i-Voting). In Deutschland hatte schon 1998 eine Enquête-Kommission empfohlen, ein Internetwahlverfahren auf Bundesebene einzuführen. Anschließend löste ein Forschungsprojekt das andere ab bis sich von 2010 bis 2013 erneut eine Enquête-Kommission des Themas annahm und zu dem Schluss kam, „dass freie, gleiche, geheime und überprüfbare – also verfassungskonforme – Internetwahlen in Deutschland noch nicht möglich seien. Die verfügbaren technischen Systeme würden den Anforderungen noch nicht genügen.“

Fazit ist: Wir liegen in diesem für die gesamte Wirtschaft prägenden Feld der Digitalisierung etwa 20 Jahre hinter Estland zurück. Da ist jede Ausrede überflüssig. Weil sehr unterschiedliche Regierungen in den vergangenen 20 Jahren Verantwortung trugen, ist es nicht so einfach mit Schuldzuweisungen. Wahrscheinlich müssen wir uns da selbst an die Nase fassen. Trägheit, Ängstlichkeit, falsche finanzielle Prioritäten und die Angst der Politik vor dem Scheitern haben einen Cocktail aus Gründen ergeben. Die „deutsche Angst“ beim Datenschutz und ein die Zeit nicht mehr voll treffendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 1986 zur „informationellen Selbstbestimmung“ taten ihr Übriges.

Europäischer Mindeststandard statt selbstverliebte Sonderregeln

Wir klagen zu Recht über marode Brücken und baufällige Schulen. Die Verweigerung einer digitalen Infrastruktur ist möglichweise das folgenschwerste Versagen. Was ist hier noch zu retten?

Wir müssen zum einen an die unterste Grenze der digitalen Regulierung in Europa. EU-Regeln gelten auch in Estland. Die deutschen Besonderheiten müssen weg. So schwer es mir als ehemaligem Landespolitiker fällt, die Datenschutzbehörden der sechzehn Bundesländer müssen weg. Eine Stelle in Berlin genügt.

Und zum anderen müssen wir dort, wo Lücken bestehen – so schwer es uns fallen mag – kopieren, was das Zeug hält. Mit dem elektronischen Rezept und der elektronischen Patientenakte sehen wir ja gerade, dass die Verpflichtung zur Anwendung der neuen Techniken trotz jahrzehntelanger Abwehrschlacht in der Medizin-Lobby doch gelingt. Wir sollten nie vergessen, ein „Wirtschaftswunder“ hat es nie gegeben. Der Erfolg war die Folge des unbedingten Willens, erfolgreich zu sein. Das Beispiel Estland hält uns vor Augen, wohin wir zurückmüssen.

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Professor Dr. h.c. mult. Roland Koch ist seit November 2020 Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung. Koch war bis von 1999 bis 2010 Hessischer Ministerpräsident. Altbundeskanzler Ludwig Erhard gründete 1967 die Ludwig-Erhard-Stiftung und gab ihr die Aufgabe, für freiheitliche Grundsätze in Wirtschaft und Politik einzutreten und die Soziale Marktwirtschaft wachzuhalten und zu stärken. Die Stiftung ist von Parteien und Verbänden unabhängig und als gemeinnützig anerkannt. Sie tritt politischem Opportunismus und Konformismus mit einem klaren Leitbild entgegen: Freiheit und Verantwortung als Fundament einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für den mündigen Bürger. Infos

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