Das Gesetz der kleinen Zahl

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4,99 Euro sind mehr als 5,00 Euro. Zumindest bei der Preissetzung. Denn Unternehmen verlieren Umsatz, wenn sie den „Linke-Ziffern-Effekt“ unterschätzen.

von Boris Karkowski

Die Tankstelle treibt das Ganze auf die Spitze: 1,799 Euro kostet der Liter Sprit – dabei kann niemand in Centbruchteilen zahlen. Alles nur, damit der Konsument nicht merkt, dass er 1,80 Euro für den Liter zahlt. Diesen krummen „Tankstellenpfennig“ gibt es seit den Sechzigerjahren. In den USA sogar schon länger, dort hatte der Einzelhändler John Wanamaker 1876 in seinen Warenhäusern auf die psychologische Verkaufstaktik mit der kleinen Zahl ganz links gesetzt. Man könnte also annehmen, dass sich Konsumenten in all den Jahrzehnten längst an den „Trick“ mit der Neun gewöhnt hätten und intuitiv aufrunden. Doch das geschieht offenkundig nicht.

2005 sollten Studienteilnehmer schätzen, wie viele Produkte sie für 73 US-Dollar kaufen könnten. Wenn die Preise auf 99 Cent endeten, glaubten die Befragten, viel mehr einkaufen zu können als bei vollen Dollarpreisen wie 8,00. Zahlreiche weitere Untersuchungen zeigen, dass wir die Differenz zwischen 2,99 und 4,00 Euro deutlich größer einschätzen als die zwischen 3,00 und 4,01 Euro.

Eine aktuelle Studie hat anhand von US-Einzelhandelspreisen für 3500 Produkte herausgefunden, dass ein Preissprung um nur einen Cent, beispielsweise von 4,99 auf 5,00 Dollar, wie eine Preiserhöhung um mehr als 20 Cent wahrgenommen wird. Weil Händler diesen Effekt aber unterschätzen, schreibt Studienautor Avner Strulov-Shlain, büßen sie ein bis vier Prozent ihres möglichen Brutto-gewinns ein. Anfang 2023 erschien eine Untersuchung, die den Effekt für das Ridesharing-Unternehmen Lyft, einen Uber-Konkurrenten, quantifizierte. Dabei wurde die Nachfragekurve anhand von 600 Millionen Fahrten und 21 Millionen Fahrgästen analysiert. So gab es größere Nachfrageeinbrüche, wenn die linke Ziffer stieg. Lyft könnte den Studienautoren zufolge die Gewinne mit einer entsprechenden Preisstrategie um etwa 160 Millionen US-Dollar im Jahr steigern.

Linksdrall im Kopf

Hinter diesem Effekt steckt der „Left-Digit Bias“ – das ist die ausgeprägte Neigung, die linke Ziffer stärker zu gewichten als die nachfolgenden. Der Left-Digit Bias ist nicht nur bei Preisen, sondern auch bei anderen Leistungswerten zu beobachten. Eine Studie wies bei Gebrauchtwagenkäufen den Effekt auf Basis der Kilometerstände ebenfalls nach. Die Analyse von 22 Millionen Großhandelstransaktionen zeigte: Bei jeder 10 000-Meilen-Schwelle gab es einen großen Preissturz, bei den 1000-Meilen–Schwellen immerhin noch einen kleineren Preisabschlag.

Besonders dann, wenn wir müde sind oder unser Gehirn mit anderen Aufgaben beschäftigt ist, schlägt der Left-Digit Bias durch. In vielen Situtionen nimmt das Gehirn Abkürzungen, oft mit bemerkenswert guten Ergebnissen. So können wir ohne komplexe Berechnungen die Flugbahn eines Balls abschätzen und zum Zielpunkt laufen. Auch als der Pilot Chesley „Sully“ Sullenberger nach dem Ausfall beider Triebwerke seines Airbus binnen Sekunden einschätzen musste, ob er den Flughafen von New York noch erreichen konnte, half ihm sogenannte Heuristik: Jeder fixierte Zielpunkt, der auf der Frontscheibe nach oben wanderte, war unerreichbar. Der Flug-hafen in der Ferne stieg nach oben, „Sully“ landete auf dem Hudson und rettete 150 Menschenleben.

Stärkere Verzerrung beim direkten Preisvergleich

Doch oft führt uns schnelles Denken auch in die Irre. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman zeigt in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ an vielen Beispielen, dass gedankliche Abkürzungen uns ein falsches Ergebnis vorgaukeln. Aus Faul- oder Trägheit geben wir uns mit dieser Antwort zufrieden. So auch beim Left-Digit Bias. Dabei ist uns durchaus bewusst, dass zwischen 2,99 und 3,00 Euro kaum ein Unterschied ist. Doch die noch schnellere Intuition unmittelbar zuvor, erläutern der Verhaltensforscher Manoj Thomas und die Marketingexpertin Vicki Morwitz, hat uns bereits geprägt. Dagegen kommt die Vernunft schwer an.

Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass wir die Differenz zwischen 2,99 und 4,00 Euro deutlich größer einschätzen als die zwischen 3,00 und 4,01 Euro.

Hinter dem Left-Digit Bias, vermuten Thomas und Morwitz, steckt die Schwierigkeit, mit absoluten Werten umzugehen. Es fällt uns schwer, drei Dollar an sich einzuschätzen – aber wir wissen instinktiv, dass im Vergleich zwei Dollar weniger sind. Tatsächlich ist der Linke-Ziffern-Effekt nicht immer gleich ausgeprägt. Wenn Kunden Preise direkt sehen und miteinander vergleichen, wird die erste Ziffer stärker gewichtet. Händler können sich das zunutze machen, indem sie den vorherigen Preis („Jetzt 2,98 Euro statt 4,00 Euro!“) direkt dazuschreiben. Der Kunde vergleicht dann unwillkürlich Ziffer für Ziffer den Produktpreis mit dem Referenzpreis. Fehlt hingegen der direkte Vergleichspreis und wird dieser darum vage aus dem Gedächtnis abgerufen, so runden Kunden offenbar im Kopf eher: „Früher vier Euro, jetzt also drei Euro.“ Oder etwas abstrakter ausgedrückt: Bei stimulusbasierten Bewertungen – dem direkten Vergleich – verlassen wir uns stärker auf unsere Wahrnehmung. Fehlt der Vergleich, helfen uns „konzeptionelle Repräsentationen“, und Bruchteile von Preisen werden unwillkürlich aufgerundet.

Was heißt das nun für die Preisgestaltung und für die Kommunikation? Thomas und weitere Wissenschaftler zeigen, dass die verschiedenen Käufergruppen unterschiedlich auf Left-Digit-Preise reagieren. Da der Gelegenheitskäufer keinen Erinnerungspreis abrufen kann, ist die Wahrscheinlichkeit eines starken Bias besonders hoch. Es lohnt sich in diesem Fall eher, die Preisgrenze unter einen Schwellenwert zu ziehen. Wird das Produkt hingegen überwiegend von Stammkäufern erworben, haben diese mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Vergleichspreis im Gedächtnis. Hier könnte sich sogar eine leichte Preis-anhebung (von 2,99 Euro auf 3,20 Euro) rentieren, da durch die Auf- und Abrundung zum Gedächtnispreis (4 Euro) der Preisvorteil ähnlich erscheint.

Stammkunden und Gelegenheitskäufer

Wer mithilfe des Left-Digit Bias seine Umsätze steigern möchte, sollte daher nicht grundsätzlich auf krumme Preise mit möglichst niedrigem Wert links setzen. Damit lassen sich zwar Neu- und Gelegenheitskunden besonders gut stimulieren. Bei Stammkunden könnten aber „kosmetische Preise“ weniger Effekt haben oder sogar zu Misstrauen führen. Außerdem kann der Left-Digit Bias nicht nur auf den Preis angewendet werden. Umgekehrt kann auch der Produktwert hochgesetzt werden, um bei gleichem Preis den Kaufanreiz zu erhöhen: 205 Liter im Gebinde erscheinen deutlich attraktiver als 199 Liter.

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Dieser Beitrag von Boris Karkowski ist zuerst unter results. FinanzWissen für Unternehmen erschienen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Bank. 

Bild oben: Steve Buissinne auf Pixabay

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