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Das Kapital hat Weltrevolution gemacht
Von der vor allem in Westeuropa erhofften großen Annäherung der Welt im Zuge einer global-kapitalistischen Ökonomie ohne Grenzen ist derzeit nichts zu spüren. Doch das liegt nicht etwa an einer Systemkonkurrenz, vor allem mit China. Sondern daran, dass alle so kapitalistisch agieren wie die westlichen Industrieländer.
Von Richard David Precht
Zwar hat das Kapital die Weltrevolution gemacht und das Gespenst des Realsozialismus ebenso hinweggefegt wie viele kulturelle Eigenheiten und indigene Traditionen. Die Welt ist eine Mall geworden, und kapitalistisches Effizienzdenken beherrscht nahezu alle und alles. Aber es hat, anders als Fukuyama glaubte, die Geschichte nicht an ein Ende geführt, sondern sie auf neue Weise dramatisiert. Und, kaum zu glauben: Die Feinde aus westlicher Sicht sind nicht weniger geworden dadurch, dass sie nun fast allesamt Kapitalisten sind, sondern mehr!
Die Welt ist nicht schlecht, sondern sie ist voll, lässt sich mit Bertolt Brecht sagen. Und der Kampf um Ressourcen ist gewiss nicht friedlicher geworden dadurch, dass nun alle ihn mit kapitalistischer Effizienz führen. Gerade die effiziente Kombination aus Staat und Kapitalismus und nicht etwa der Kommunismus hat China zu einem ernst zu nehmenden Rivalen der westlichen Industriestaaten gemacht – aber eben gerade nicht zu einem »systemischen«, wie die Derivation kontrafaktisch behauptet. Die alte Derivation aus der Zeit des Kalten Krieges, dass die Systemkonkurrenz von Kapitalismus und Kommunismus die große Schuld an Unfrieden und Spannungen in der Welt trägt, ist damit widerlegt.
Kalt und nüchtern ringen Staaten um Macht- und Einflusssphären
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Unfrieden und Spannungen zwischen Mächten brauchen keine systemische Rivalität; so wie etwa Franzosen und Deutsche sich in ungezählten Kriegen abschlachteten, ohne dass es dabei um konkurrierende Herrschaftssysteme ging. So geht es auch in der Frage des Umgangs mit China nicht um Systemisches. Die Welt steht hier nicht vor einer Entweder-oder-Entscheidung wie ehedem bei der zur Systemkonkurrenz erklärten Frage von Kommunismus oder Kapitalismus.
Und eigentlich war schon damals nicht ganz so viel dran, jedenfalls nicht über die lange Zeitstrecke. Die Sowjetunion und ihre Vasallen waren aller Selbstverklärung zum Trotz bekanntlich keine kommunistischen, sondern staatswirtschaftliche Systeme, in denen nicht ein freies Volk regierte, das seine Wirtschaft selbst organisierte. Stattdessen herrschte eine unterdrückende Parteielite als Staats- und Unternehmensführung in Personalunion. Die Propaganda mochte dort auf Hochtouren laufen – die behauptete systemische Überlegenheit des Realsozialismus gegenüber dem Kapitalismus konnte sich spätestens seit Leonid Breschnew kein Sowjetführer mehr mit noch so viel Wodka wahrtrinken. Alles, was der angeblich so expansive Kommunismus seit den Siebzigerjahren noch anzettelte, war die oft vergebliche Unterstützung von »Volksbefreiungsarmeen« in Afrika und Lateinamerika (nur in Südostasien war man erfolgreicher) und 1980 der katastrophal gescheiterte Einmarsch in Afghanistan. Doch auch hier gilt: Wenn es im Kalten Krieg eine Konkurrenz gab, dann konkurrierten bei abgeklärter Betrachtung dauerhaft keine Ideologien, sondern Staaten kalt und nüchtern um Macht- und Einflusssphären.
„Wenn es erwiesenermaßen stimmt, dass der Kapitalismus das wirtschaftlich deutlich erfolgreichere System ist, dann muss auch die wirtschaftliche Rivalität zwischen immer mehr und immer stärkeren Weltmarktteilnehmern steigen“
Der Fokus auf eine irgendwann immer hinfälliger gewordene Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus machte viele in den westlichen Industrieländern blind für die eigentlichen Gründe der Rivalität. Und so konnte es geschehen, dass in den Zeiten des Kalten Krieges niemand durchrechnete, wie die Welt wohl sein würde, wenn alle so kapitalistisch agierten wie die westlichen Industrieländer. Ein gewaltiges Versäumnis, ohne das Fantasien wie diejenige Fukuyamas wohl gar nicht hätten aufkommen können.
Wenn es erwiesenermaßen stimmt, dass der Kapitalismus das wirtschaftlich deutlich erfolgreichere System ist, dann muss auch die wirtschaftliche Rivalität zwischen immer mehr und immer stärkeren Weltmarktteilnehmern steigen. Ein staatskapitalistisches China ist nicht nur ein Partner, ein grandioser Absatzmarkt und eine billige Werkbank, sondern eben auch ein stets stärker werdender Wettbewerber; Maos kommunistische Diktatur war beides nicht.
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