
Historiker zu Alice Weidels Einschätzungen: „Hitler selbst sah sich als weder links noch rechts“
Die Behauptung der AfD-Chefin, Hitler sei Kommunist und Sozialist gewesen, sorgt in Deutschland für Entsetzen. Wie bewertet Hitler-Experte Dr. Dr. Rainer Zitelmann die Aussagen? Ein Interview.
Dieses Interview führte Moritz Eichhorn von der BERLINER ZEITUNG mit Rainer Zitelmann.
Im X-Gespräch mit Elon Musk erklärte Alice Weidel am Donnerstag, Hitler sei sowohl Kommunist als auch Sozialist gewesen. Die Behauptung der AfD-Chefin stieß in Deutschland auf große Empörung. Doch was sagt ein Historiker, der über Adolf Hitler promovierte, zur Weidel-Aussage? Die Berliner Zeitung hat mir Dr. Dr. Rainer Zitelmann gesprochen:
Herr Zitelmann, liegt Alice Weidel mit ihrer Einschätzung, Hitler sei „nicht rechts“ gewesen falsch?
Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Wohlwollend betrachtet kann man sagen: Weidel wollte offenbar richtig stellen, dass Hitler nicht ohne weiteres als „rechts“ eingeordnet werden könne, sondern dass er Sozialist war. Das ist richtig. Durch ihre Aussage, Hitler sei ein Kommunist gewesen und die privaten Unternehmen seien verstaatlicht worden, ist diese an sich richtige These jedoch so formuliert worden, dass man ihr nicht zustimmen kann. Man kann Weidel vielleicht zugutehalten, dass ihr Englisch für ein solches Gespräch nicht ganz ausreichend ist. So musste sie zwischendurch nachfragen, was Verstaatlichung in englischer Sprache heißt („nationalization“).
War Hitler ein Sozialist oder sogar Kommunist?
Nein, Hitler war kein Kommunist, sondern ein Antikommunist. Aber richtig ist, dass er ein Sozialist war, ein nationaler Sozialist. Der Unterschied zu den Kommunisten war: Erstens war der Nationalsozialismus nicht internationalistisch konzipiert, sondern sollte für Deutschland gelten. Zweitens: Die Kommunisten wollten das gesamte Privateigentum verstaatlichen. Das wollte Hitler nicht. Er war ein moderner Sozialist, womit ich meine: Formal bleiben die Unternehmer Eigentümer der Produktionsmittel, doch das private Eigentum wird immer mehr ausgehöhlt, weil der Staat befiehlt, was der Unternehmer mit seinem Eigentum machen soll.
War Hitler links?
Hitler selbst sah sich als weder links noch rechts, aber es gab viele linke Elemente in seinem Denken. Und in den 40er Jahren begann er, Stalin und das sowjetische Wirtschaftssystem immer mehr zu bewundern. So sagte er 1942: „Wenn Stalin noch zehn bis fünfzehn Jahre an der Arbeit geblieben wäre, wäre Sowjetrussland der gewaltigste Staat der Erde geworden, da können 150, 200, 300 Jahre vergehen, das ist so eine einmalige Erscheinung! Dass der allgemeine Lebensstandard sich gehoben hat, daran ist kein Zweifel. Hunger haben die Menschen nicht gelitten. Alles in allem gesehen muss man sagen: Die haben Fabriken hier gebaut, wo vor zwei Jahren noch unbekannte Bauerndörfer waren, Fabriken, die die Größe der Hermann-Göring-Werke haben.“
Wie würden Sie die zentralen Unterschiede zwischen Sozialismus und Kommunismus beschreiben?
Sozialismus und Kommunismus sind keine fest definierten Begriffe. Aus marxistischer Sicht ist der Sozialismus eine Übergangsphase zur klassenlosen Gesellschaft, zum Kommunismus. Sehr viele ganz unterschiedliche Strömungen bezeichnen sich als sozialistisch – von den demokratischen Sozialisten bis hin zu den Nationalsozialisten. Gemeinsam ist allen Formen des Sozialismus ein tiefes Misstrauen gegen den Markt und der Glaube, dass der Staat das Wirtschaftsgeschehen weitgehend lenken solle. Sozialisten lehnen den Individualismus ab, sie betonen das „Wir“. Man sieht das an der Formulierung „Gemeinnutz vor Eigennutz“ im NSDAP-Programm, der jedoch auch viele linke Sozialisten zustimmen würden.
Wo hat Hitler sich im politischen Spektrum selbst gesehen?
Auf keinen Fall als rechts. Er selbst sagte: „Jeder wahrhaft nationale Gedanke ist letzten Endes sozial, d.h.: Wer bereit ist, für sein Volk so vollständig einzutreten, dass er wirklich kein höheres Ideal kennt als nur das Wohlergehen dieses seines Volkes, … der ist ein Sozialist.“ Und an anderer Stelle: „Je fanatischer national wir sind, umso mehr muss uns die Wohlfahrt der Volksgemeinschaft am Herzen liegen, d.h. umso fanatischer sozialistisch werden wir sein“.
Weidel sagte auch, Hitler sei weder rechts noch konservativ gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe man ihn allerdings so gelabelt. Hat eine solche Umdeutung stattgefunden?
Nun, ich kenne keinen Historiker, der Hitler als „konservativ“ bezeichnet hätte. Richtig ist jedoch, dass er oft fälschlicherweise als „rechts“ bezeichnet wurde und wird. Wenn Weidel das kritisiert, hat sie Recht. Insbesondere die marxistische Faschismustheorie sieht Hitler und den Nationalsozialismus als Lakaien des Finanzkapitals, was eine These ist, die vielfach widerlegt wurde. Neben meinem eigenen Buch „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs“ verweise ich hier auf die Bücher der Historiker Götz Aly, „Hitlers Volksstaat“ und des amerikanischen Historikers Henry A. Turner, „Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers.“
Wie hat sich Hitlers politische Verortung über die Zeit verändert?
In der allgemeinen Meinung sieht man Hitler als rechts. Spätestens seit der sogenannten 68er Bewegung gilt das in der öffentlichen Meinung fast als Konsens. Aber es gab immer schon kluge Publizisten und Historiker, die das völlig anders sahen. „Hitler ist keineswegs so leicht als extrem rechts im politischen Spektrum einzuordnen, wie es viele Leute zu tun gewohnt sind“ formulierte der Publizist Sebastian Haffner 1978 in seinen viel beachteten „Anmerkungen zu Hitler“. Auch Joachim Fest hat in seiner Hitler-Biografie (1973) die sozialistischen und linken Elemente in Hitlers Denken betont. 2002 wurde eine Arbeit des britischen Historikers Brendan Peter Simms, Professor am Centre of International Studies der Universität Cambridge veröffentlicht. Dessen zentrale These: Hitler hasste nicht vor allem den Kommunismus, sondern den Kapitalismus. „Die anglo-amerikanische kapitalistische Weltordnung, gegen die Hitler revoltierte, bestimmte seine gesamte politische Laufbahn“, so Simms. Hitlers Judenhass, so fügt er hinzu, wurzelte „weniger in seinem Hass gegen die radikale Linke als vielmehr in seiner Feindschaft gegenüber der globalen Hochfinanz“
Ist Alice Weidels Behauptung, Antisemitismus sei „links“ begründbar?
Antisemitismus und Judenhass sind nicht per se links oder rechts, sondern es gibt einen rechten wie einen linken Antisemitismus – und natürlich einen islamistisch motivierten. In der Bundesrepublik wurde Antisemitismus meist mit rechtem Denken in Verbindung gebracht, doch das ist eine sehr einseitige Sicht. Karl Marx – obwohl selbst Jude – schrieb an einen Freund, wie „widerlich“ ihm „der israelitische Glaube“ sei. Der Grund war, dass Marx den Juden vorwarf, Geld zu ihrem wahren Gott zu machen, wie er im Aufsatz „Zur Judenfrage“ schrieb: „Welches ist der weltliche Grund des Judenthums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Judenfeindschaft gibt es schon sehr lange, aber im 19. und 20. Jahrhundert verlagerten sich die Akzente. Der religiös motivierte Antisemitismus trat in den Hintergrund, dagegen dominierte mehr und mehr das Bild des „reichen Juden“, des „Geldjuden“. Auch der Sozialist Eugen Dühring war ein fanatischer Antisemit und stritt für einen „Sozialismus des arischen Volkes“. Im 19. und 20. Jahrhundert traten Antikapitalismus und Antisemitismus oft gemeinsam auf. Beide haben eine wesentliche psychologische Wurzel im Sozialneid. Wir sehen auch heute an deutschen und amerikanischen Universitäten wieder viele linke Studenten, die zumindest Israel hassen, manchmal aber auch die Grenze zum Antisemitismus überschreiten.
Sie sind Historiker und Hitlerforscher können Sie kurz erklären, worauf Sie sich in ihrer Forschung konzentriert haben?
Ja, das war das Thema meiner Dissertation, die gerade als Buch wieder neu aufgelegt wurde: „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs.“ Um das einzuordnen, was Neu war an meiner Arbeit war, darf ich die Rezension des renommierten Historikers Klaus Hildebrand zitieren, der damals in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb: „Erkenntnisfortschritte in der Geschichtswissenschaft stellen sich in der Regel dann ein, wenn neue Quellen oder neue Gedanken auftauchen. Im Falle des Buches von Rainer Zitelmann kommt beides zusammen: An bislang noch nicht ausgewertetes Material richtet der Verfasser seine durchweg originellen Fragen. Auf diese Art und Weise werden erstmals alle Reden und Aufsätze, alle Schriften und Gespräche Hitlers, ob bekannt oder unbekannt, ob publiziert oder unveröffentlicht, systematisch ausgewertet, um die – die Forschung zentral beschäftigende – Frage zu beantworten, ob beziehungsweise inwieweit Hitler ein Revolutionär oder ein Reaktionär gewesen sei … Das vollzieht sich ebenso quellennah wie reflektiert, ebenso kritisch wie schöpferisch, ebenso abgesichert wie kühn.“
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Dr. Dr. Rainer Zitelmann ist Historiker und Soziologe – und war auch als Unternehmer und Investor erfolgreich. Er hat 29 Bücher geschrieben und herausgegeben, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden, darunter „Ich will. Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können“. und „Psychologie der Superreichen“. Artikel und Interviews erscheinen in führenden Medien wie Le Monde, Corriere della Sera, Il Giornale, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Neue Zürcher Zeitung, Daily Telegraph, Times und Forbes. Auch auf DDW ist er regelmäßiger Gastautor.
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