
Der alte Kontinent
Es scheint, China und die USA hängen unsere Wirtschaft ab. Oder malen wir die Lage schwärzer, als sie ist? Noch ist Europa kein „postindustrielles Freilichtmuseum“, Maschinenbau und Elektrotechnik haben einen Marktvorsprung, der nicht leicht einzuholen sein dürfte.
von Boris Karkowski
Boeing – welch ein Niedergang! Vor rund 20 Jahren frohlockte der damalige Boeing-Chef: Endlich werde der Flugzeugbauer wie ein Unternehmen und nicht mehr wie eine Ingenieursfirma geführt. Doch der Kulturwandel produzierte schon damals Skandale, heute ist der einstige Weltmarktführer öffentlich demontiert. Stattdessen hat Airbus global die Nase vorn. Ausgerechnet Airbus, dieser paneuropäische Zusammenschluss, der sich so lange mit nationalen Befindlichkeiten selbst ausgebremst hatte. Jahrzehntelang hatten sich die Duopolisten ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert. Vor Kurzem kam ein Dritter hinzu: COMAC aus China. Ende 2022 entfiel etwa ein Drittel der chinesischen Flugzeugbestellungen auf den Neuling.
Die USA verlieren, Europa liegt vorn, China holt auf – tatsächlich galt diese Entwicklung lange für viele Fertigungsbereiche. Während sich angelsächsische Volkswirtschaften eher auf Dienstleistungen konzentrierten, wuchs der günstige Konkurrent in Fernost als Nachahmer heran. Europäische, vor allem deutsche Produktionsunternehmen hingegen überzeugten mit ihrer Qualität und ihren Innovationen.
„Besonders in den Technologien der Zukunft sieht der alte Kontinent alt aus.“
Doch was heute für den Flugzeugmarkt gilt, trifft immer seltener auf andere Wirtschaftssegmente zu. Besonders in den Technologien der Zukunft sieht der alte Kontinent alt aus. Beispiel erneuerbare Energien: Sowohl bei Windturbinen als auch bei Solarpaneelen und Batteriespeichern führt China deutlich. Vier der führenden fünf Windturbinenhersteller weltweit sind Chinesen. Bei Solarpaneelen sind es fünf der Top 5. Bei Batteriespeichern kommen zwei der größten fünf aus China – die anderen drei stammen ebenfalls aus Asien. Ein Grund dafür ist, dass China mehr Kapazitäten für erneuerbare Energien aufbaut als der Rest der Welt zusammen. Zugleich zeigt es, mit welcher Macht das Land in Zukunftsindustrien nach vorn drängt.
Europa in der Defensive
Das spüren auch Europas Automobilhersteller. Die politische Debatte mag anderes suggerieren, aber die Frage der Antriebstechnologie in der Massenautoproduktion ist längst entschieden. Dominieren wird, wer die besten E-Autos auf den Markt bringt. Und hier geraten die Traditionshersteller zunehmend in die Defensive, es mangelt ihnen an zeitgemäßer Software und Batterietechnologie. Oder Pharma: Zwar führen US- und europäische Unternehmen den Weltmarkt an, aber bei der Entwicklung neuer Produkte fällt Europa zurück. Schon 2020 entfielen nur 19 Prozent der weltweiten klinischen Studien auf Europa, vor zehn Jahren waren es noch 26 Prozent. Der Anteil an Investitionen in Forschung und Entwicklung sank im selben Zeitraum von 41 auf 31 Prozent. Die USA investieren inzwischen jährlich 25 Milliarden US-Dollar mehr in pharmazeutische Forschung und Entwicklung. Dass es dabei nicht allein um Quantität geht, sondern dass China auch in Sachen Qualität die Nase vorn hat, zeigt der R&D Institute Score, ein Ranking der akademischen Forschungsqualität. Ob in Agrikultur und Biologie, Biochemie und Genetik, Chemie oder Ingenieurswesen, Pharmakologie oder IT: Immer liegt auf Platz 1 eine chinesische Institution.
Das gilt auch für andere Wachstumsbereiche: Künstliche Intelligenz oder Unterhaltungselektronik, Software, Telekommunikation oder Finanzdienstleistungen – außerhalb Europas wird die Zukunft geschmiedet. CDU-Politiker Christian Ehler warnte daher schon: „Ich möchte nicht, dass Europa zum postindustriellen Freilichtmuseum wird.“
Die Ursachen für diese Rückentwicklung sind vielschichtig: alternde und saturierte Gesellschaften, starre Regulierung, zu wenig Risikokapital, zu wenig Immigration von Fachkräften, hohe Sozialausgaben, teure Energie. Oder, um es zuzuspitzen: Zu viel Energie wird auf die Bewahrung des Bestehenden verwendet, zu wenig auf die ungewissen Chancen der Zukunft gesetzt.
Doch das Bild ist nicht so schwarz, wie es scheint. Es gibt nicht nur Airbus, sondern zahlreiche andere Ausnahmen von der Regel. Ein Beispiel ist Novo Nordisk aus Dänemark mit seiner Abnehmspritze Wegovy, deren weltweite Nachfrage die Produktionsmöglichkeiten übersteigt. Das Mainzer Start-up Biontech hat in Rekordzeit den wohl besten Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt. Die deutsche Pharmastärke haben Unternehmen aus aller Welt erkannt: Das US-Unternehmen Eli Lilly errichtet für 2,3 Milliarden Euro ein Werk im rheinland-pfälzischen Alzey, Daiichi Sankyo aus Japan investiert eine Milliarde Euro in Pfaffenhofen und Teva aus Israel rund eine Milliarde US-Dollar in Ulm. Auch deutsche Pharmaunternehmen investieren auf dem alten Kontinent in Forschung und Herstellung. Dabei geht es nicht um die günstigen, altbewährten Medikamente – diese werden längst in Asien produziert –, sondern um neue, sehr anspruchsvolle Präparate, die eine höhere Marge versprechen.
Auch bei Halbleitern gibt es Spitzentechnologie in und aus Europa. Das niederländische Unternehmen ASML ist weltweit führend in der optischen Fertigungstechnik für die Halbleiterproduktion. Siemens, Bosch, Glencore, Schneider Electric – und ja, auch Mercedes-Benz und BMW genießen weltweit den Ruf der Innovationstreiber. Mehr als 1500 Hidden Champions allein in Deutschland zeigen, dass europäische Unternehmen im globalen Wettbewerb immer noch Bestand haben – und sich auch für die Zukunft rüsten.
Erst Vorsprung, dann überholt
Apropos Zukunft: Kein Kontinent nimmt das Thema Kreislaufwirtschaft so ernst wie Europa. Getrieben von einer anspruchsvollen Regulierung, entwickeln zahlreiche Unternehmen unterschiedlichster Größe Ansätze zu höheren Recyclingquoten, zur Substitution umweltschädlicher Materialien und zum verminderten Energieeinsatz. Die als weltweit am umweltfreundlichsten bezeichnete Fabrik, „The Plus“ des Möbelherstellers Vestre, steht in Norwegen.
Diese Stärke ist zugleich aber ein Grundproblem des Kontinents. Die Regulierung bedeutet strenge Vorgaben im Hinblick auf Konsumenten-, Arbeiter-, Umwelt- und Klimaschutz. Weil jedoch keine adäquaten Fördergelder bereitgestellt werden, konzentrieren die europäischen Unternehmen einen signifikanten Teil ihrer Ressourcen (nicht nur finanzielle, sondern auch strategische und personelle) auf die Entwicklung entsprechender Lösungen. Mit der Folge, dass Zukunftstechnologien besonders im Umweltbereich früher als in anderen Weltregionen Erfolge gezeigt haben.
Doch bei der systematischen Skalierung sind die europäischen Unternehmen gegen die Wirtschaftskraft Chinas nach einiger Zeit ins Hintertreffen geraten. So hat Deutschland seine Führungsposition in der Solar- und Windtechnik aufgrund der Kostennachteile binnen weniger Jahre an die staatlich massiv subventionierten Wettbewerber in China verloren. Gegen die dortige Überproduktion und ihre Dumpingpreise haben Europas Hersteller keine Chance mehr. Durch das staatliche US-Förderprogramm Inflation Reduction Act droht Europa nun sogar gegen die USA an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren, zugleich schien nach den EU-Parlamentswahlen das Ende des Green Deal nahe.
„Ich möchte nicht, dass Europa zum postindustriellen Freilichtmuseum wird.“
Zu oft bleibt europäischen Unternehmen dann nur das Schicksal des Gekauften – und die Technologie wandert in die USA oder nach China. Die großen Zukunftstechnologien und Innovationsfelder sind weitgehend zwischen den USA und China/Ostasien aufgeteilt. Heute zählen noch neun europäische Konzerne zu den laut Boston Consulting Group 50 innovativsten Unternehmen des Jahres 2023. Vor neun Jahre waren es noch 13 – unter anderem Volkswagen und Audi, BASF und Bayer wurden aussortiert.
Mehr als Megatrends
Noch ist Europa kein „postindustrielles Freilichtmuseum“, Maschinenbau und Elektrotechnik haben einen Marktvorsprung, der nicht leicht einzuholen sein dürfte. Es gibt zahlreiche sehr erfolgreiche Unternehmen in der Nische, die hoch innovativ sind und auch Themen wie KI weiterentwickeln. Allerdings machen sie das meist mit einem Fokus auf B2B und nicht auf B2C. Diese Hidden Champions sorgen selten für Schlagzeilen, und sie werden auch nicht so riesig wie ihre B2C-Konkurrenz. Unverzichtbar können sie dennoch sein.
Außerdem gibt es noch weitaus umsatzstärkere Branchen als KI oder Renewables, und dort sind Europäer weiterhin ganz vorn dabei. Die Versicherungsbranche zum Beispiel: Unter den Top-5-Unternehmen findet man nur ein chinesisches, aber zwei europäische, bei den Rückversicherern sind sogar die größten drei Europäer. In der Telekommunikationsbranche ist immerhin ein Unternehmen in der Top 5 – noch kann sich die Deutsche Telekom in der Spitzengruppe der US-Unternehmen (und aufholenden Chinesen) behaupten.
Dennoch: Europa wird sich sehr anstrengen müssen, um in den aktuellen Wachstumsfeldern wie erneuerbaren Energien und künstlicher Intelligenz den Abstand zu verringern. Das ist nicht zuletzt auch Einstellungssache: Das strukturelle Festhalten an bestehenden Technologien, in denen Europa führend ist, die ihren Zenit aber überschritten haben, mag menschlich nachvollziehbar sein. Und in Nischen durchaus funktionieren. Eine starke Wachstumsdynamik ist von dieser Strategie jedoch kaum zu erwarten. Darum muss der Fokus darauf liegen, Innovationen nicht nur zu entwickeln, sondern auch mit eigenen Unternehmen und Ressourcen in die Weltmärkte zu führen – und sich dort zu behaupten.
Ein Vorbild dafür haben wir an unserer Grenze: die Schweiz. Trotz oder gerade wegen eines viel zu kleinen Heimatmarkts haben dort viele Unternehmen die Globalisierung mit Mut und Geschick gemeistert und sind dauerhaft zu Weltmarktführern aufgestiegen.
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Dieser Beitrag von Boris Karkowski ist zuerst unter results. FinanzWissen für Unternehmen erschienen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Bank.
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