
Make Orwell Fiction again
Im Verhandler-Papier der Koalition heißt es: „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“
von Dr. Dr. Rainer Zitelmann
Die Folge: „Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.“
Bereits im Sondierungspapier von SPD und CDU hatte es geheißen: „Die gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie die inzwischen alltägliche Desinformation und Fake News sind ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In Zeiten geopolitischer Spannungen müssen wir entschiedener denn je dagegen vorgehen.“ Deshalb wolle man den Digital Services Act (DSA) der EU auf nationaler Ebene konsequent umsetzen.
Nun heißt es in einem Papier der Arbeitsgruppe „Kultur und Medien“, dass „die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt sei. Deshalb soll die Medienaufsicht auf “Basis klarer gesetzlicher Vorgaben” gegen Informationsmanipulation vorgehen können. Die „Staatsferne“ der Medienaufsicht kann man dabei ebenso wenig ernst nehmen wie die „Staatsferne“ des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang
Der Satz, die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen sei durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt, bezieht sich offenbar auf einen Satz in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28. November 2011. Dieser Beschluss verteidigt die Meinungsfreiheit mit klaren Worten. Es ist kennzeichnend, dass im Koalitionspapier ausgerechnet der Satz zitiert wird, der diese Freiheit einschränkt. Deshalb möchte ich hier aus dem Beschluss im Zusammenhang ausführlicher zitieren:
„a) Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind zum einen Meinungen, das heißt durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen. Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>; 124, 300 <320>). Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden (vgl. BVerfGE 61, 1 <7 f.>; 90, 241 <247>; 93, 266 <289>). Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt (vgl. BVerfGE 124, 300 <320>). Neben Meinungen sind vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG aber auch Tatsachenmitteilungen umfasst, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind beziehungsweise sein können. Nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen hingegen bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen, da sie zu der verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung nichts beitragen können (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>; 90, 241 <247>). Allerdings dürfen die Anforderungen an die Wahrheitspflicht nicht so bemessen werden, dass darunter die Funktion der Meinungsfreiheit leidet. Im Einzelfall ist eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile nur zulässig, wenn dadurch der Sinn der Äußerung nicht verfälscht wird. Wo dies nicht möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes drohte (vgl. BVerfGE 90, 241 <248>; stRspr).“
Man sieht: Charakteristisch ist, dass im Koalitionspapier genau der Satz herausgegriffen wurde, der die laut diesem Beschluss sehr weit auszulegende Freiheit der Meinungsäußerung einschränken könnte. Schon das verrät viel. Problematisch wird die These, falsche Tatsachenbehauptungen seien nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt, dadurch, dass es in den vergangenen Jahren zunehmend eine Tendenz gibt, abweichende Meinungen als „Hass und Hetze“ zu verunglimpfen und bestimmte Meinungen als unumstrittene Tatsachen darzustellen, auch wenn sie es nicht sind. Der Trick: Abweichende Meinungen werden als „Hass und Hetze“ bezeichnet, um hinzuzufügen: „Hass ist keine Meinung“. Zudem werden Falschbehauptungen als Tatsachen bezeichnet und Tatsachen als Verbreitung von Hetze, ganz so wie in Orwells 1984 oder in Diktaturen wie der DDR.
„Staatsfeindliche Hetze“ war in der DDR ein als Staatsverbrechen eingestuftes Delikt (§ 106 StGB, ursprünglich „Boykotthetze“), das in weit gefassten Rechtsbegriffen u. a. den Angriff oder die Aufwiegelung gegen die Gesellschaftsordnung der DDR durch „diskriminierende“ Schriften und Ähnliches unter Strafe stellte. Unter dem Vorwurf der „staatsfeindlichen Hetze“ wurden viele Oppositionelle der DDR verhaftet, insbesondere weil die Formulierungen des Paragrafen so offen gestaltet waren, dass beinahe jede kritische Äußerung unter Bezug auf diesen Artikel geahndet werden konnte. Der Paragraf 106 des Strafgesetzbuchs von 1986 bestrafte „staatsfeindliche Hetze“ mit einem Freiheitsentzug zwischen zwei und zehn Jahren.
Und heute ist für manchen Zeitgenossen bereits die bloße Nennung von Fakten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik Hetze, wie man täglich auf Social Media erfahren kann.
Sollen Falschbehauptungen verboten werden?
Problematisch ist das Geschäft der sogenannten „Faktenchecker“. Charakteristisch ist, dass diese niemals Behauptungen als falsch kritisieren, wenn sie beispielsweise von Antikapitalisten vertreten werden. Die Faktenchecker könnten theoretisch täglich beanstanden, wenn zum Beispiel behauptet wird, Kapitalismus führe zu Hunger und Armut. Tun sie aber nicht.
Ein Beispiel: Bevor der Kapitalismus entstand, lebten die meisten Menschen auf der Welt in extremer Armut – 1820 betrug die Quote noch 90 Prozent. Heute ist sie unter 9 Prozent gesunken. Das Bemerkenswerte: In den letzten Jahrzehnten, seit dem Ende der Sowjetunion und dem Beginn marktwirtschaftlicher Reformen in China hat sich der Rückgang der Armut so stark beschleunigt wie in keiner Phase der Menschheitsgeschichte zuvor. 1981 lag die Quote noch bei 42,7 Prozent, im Jahr 2000 war sie bereits auf 27,8 Prozent gesunken und heute liegt sie bei 8,5 Prozent.
Wer behauptet, Kapitalismus führe zur Armut verbreitet also falsche Tatsachenbehauptungen. In meinem Buch „Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten“ habe ich auf über 400 Seiten, belegt mit über 800 Quellennachweisen, solche Falschbehauptungen über den Kapitalismus widerlegt.
Falschbehauptungen, die täglich durch Medien verbreitet werden. Soll man all diese Behauptungen verbieten? Ich finde nicht. Es muss auch erlaubt sein, Unsinn zu erzählen, wie etwa, dass Hunger und Armut weltweit zunehmen und der Kapitalismus daran schuld sei. Oder dass Kapitalismus schuld sei an der Sklaverei (obwohl er sie tatsächlich weitgehend abgeschafft hat).
Behauptungen zum Klimawandel
Wie Axel Bojanowski in seinem Buch „Was Sie schon immer übers Klima wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten“ belegt, werden im Zusammenhang der Debatte um den Klimawandel häufig Behauptungen als wissenschaftlich erwiesene Tatsachen bezeichnet, die es nicht sind. In der öffentlichen Diskussion gilt es inzwischen als angeblich unbestreitbare Tatsache, dass der Klimawandel zu immer größeren Wetterextremen und diese zu immer höheren Kosten und immer mehr Zerstörung führten. Als Beleg werden oft Aussagen von großen Rückversicherungsgesellschaften zitiert, die jedoch ein Interesse daran haben, die Kosten und die Folgen als möglichst dramatisch darzustellen, um entsprechend die Prämien zu erhöhen. Tatsächlich erklären jedoch gewachsene Siedlungen und Inflation den Schadenszuwachs durch Extremwetter und es gibt bis heute keinen Beleg, dass dieser durch den Klimawandel bedingt sei. Statistiken in den 2000er Jahren belegen gar einen Abwärtstrend bei der durchschnittlichen Windgeschwindigkeit in Deutschland. Doch die wissenschaftlichen Daten ändern den öffentlichen Diskurs nicht. „Wie der Klimawandel immer mehr Killer-Stürme produziert“, titelte der Spiegel im Juli 2002. Es gibt heute kein Wetterereignis mehr, das – ohne irgendeinen Beweis dafür zu liefern – in den Medien als Folge des Klimawandels dargestellt wird. Egal, ob es zu viel oder zu wenig regnet, ob es zu heiß ist oder stürmt, Schuld ist stets der Klimawandel.
Absurde Thesen fanden teilweise sogar Eingang in die offiziellen Berichte der UN-Organisation IPCC, wo etwa die durch nichts belegte These vertrete wurde, die Gletscher auf dem Himalaya würden bis zum Jahr 2035 fast verschwunden sein. Das Problem: Medien greifen am liebsten die extremsten Prognosen auf.
Ich finde: Wenn jemand Unsinn erzählt, sollte auch das erlaubt sein. Es werden täglich unzählige Falschbehauptungen aufgestellt – und sogar die sogenannten Faktenchecker von „Correctiv“ haben in der Vergangenheit selbst Falschbehauptungen verbreitet, so etwa über das sogenannte „Potsdamer Treffen“. Soll man das verbieten? Soll der Staat dagegen vorgehen? Ich bin dagegen. Der Staat soll sich aus der Meinungsbildung heraushalten.
Das Wahrheitsministerium
Es schadet der Gesellschaft und der Freiheit des Individuums weniger, wenn Menschen Unsinn reden als wenn der Staat anfängt, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Fängt der Staat einmal an, zu definieren, was wahr ist und was falsch, dann endet das irgendwann beim Wahrheitsministerium. In Orwells „1984“ arbeitet Winston Smith im Wahrheitsministerium: “Das Wahrheitsministerium enthielt, so erzählte man sich, in seinem pyramidenartigen Bau dreitausend Räume und eine entsprechende Zahl unter der Erde. In ganz London gab es nur noch drei andere Bauten von ähnlichem Aussehen und Ausmaß. Sie beherrschten das sie umgebende Stadtbild so vollkommen, dass man vom Dach des Victory-Blocks aus alle vier gleichzeitig sehen konnte. Sie waren der Sitz der vier Ministerien, unter die der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war, des Wahrheitsministeriums, das sich mit dem Nachrichtenwesen, der Freizeitgestaltung, dem Erziehungswesen und den schönen Künsten befasste, des Friedensministeriums, das die Kriegsangelegenheiten behandelte, des Ministeriums für Liebe, das Gesetz und Ordnung aufrechterhielt, und des Ministeriums für Überfluss, das die Rationierungen bearbeitete.”
Die sukzessive Verwandlung der Demokratie in eine Diktatur ist Thema des aktuellen Buches von Rainer Zitelmann: „2075. Wenn Schönheit zum Verbrechen wird“. Leseproben hier.
- So werden Milliarden für Entwicklungshilfe verschwendet
- Reihe „Weltreise eines Kapitalisten“ von Rainer Zitelmann auf DDW
- Wohlstand und Armut von Nationen
Dr. Dr. Rainer Zitelmann ist Historiker und Soziologe – und war auch als Unternehmer und Investor erfolgreich. Er hat 30 Bücher geschrieben und herausgegeben, die in 35 Sprachen übersetzt wurden. Sein aktuelles Buch ist eine Dystopie gegen den Egalitarismus: “2075. Wenn Schönheit zum Verbrechen wird“. Er ist nominiert für einen der prestigeträchtigsten Buchpreise der USA, den Hayek Prize 2025 des Manhattan Instituts.
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