Neustart für Deutschland. Mit einer Grand Strategy aus der Krise

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Deutschland steht am Scheideweg: Ein Epochenumbruch in Geopolitik und Globalisierung –verbunden mit, aber nicht beschränkt auf Donald Trump – verändert die Welt grundlegend. Die vertraute Ordnung gerät ins Wanken, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen werden zunehmend härter ausgefochten. In dieser neuen Realität kann Deutschland nur bestehen, wenn es sich anpasst: durch eine klare Westbindung, ein erneuertes Europa – und vor allem durch tiefgreifende Reformen im eigenen Land.

Von Gerald Braunberger

Rom, am 30. Oktober 2021: Am Rande des G-20-Gipfels lädt der amerikanische Präsident Joe Biden seinen französischen Amtskollegen Emmanuel Macron, den britischen Premierminister Boris Johnson, Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren designierten Nachfolger Olaf Scholz zu einem vertraulichen Gespräch ein. Biden informiert seine Gesprächspartner über Geheimdiensterkenntnisse, denen zufolge Russland die Ukraine vermutlich im Januar 2022 angreifen werde. Anders als Johnson lassen sich Macron, Merkel und Scholz jedoch nicht überzeugen. „Putin ist doch nicht verrückt“, sagt Merkel.
Am 24. Februar 2022 greift Russland die Ukraine an.

Wer das Randgebiet kontrolliert, beherrscht Eurasien

Die Landmasse unseres Planeten wird vom eurasischen Doppelkontinent dominiert, auf dessen Fläche von 55 Millionen Quadratkilometern mit rund 5,5 Milliarden Menschen gut zwei Drittel der Erdbevölkerung leben und auf dem mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung entsteht. Der amerikanische Doppelkontinent ist mit einer Fläche von 43 Millionen Quadratkilometern ebenfalls gewaltig, mit einer Bevölkerung einer Milliarde Menschen jedoch sehr viel dünner besiedelt.

Ein Ansatz der geopolitischen Analyse unterscheidet in Eurasien ein Herzland („Heartland“), das im Westen, Süden und Osten von einem Randgebiet („Rimland“) umgeben ist. In diesem Randgebiet Eurasiens lebt die Mehrheit der Bevölkerung des Doppelkontinents, hier liegen die wichtigsten Wirtschaftszentren und finden sich bedeutende Rohstoffvorkommen. Nicholas Spykman, einer der Pioniere der geopolitischen Eurasien-Analyse, brachte es auf den Punkt: „Wer das Randgebiet kontrolliert, beherrscht Eurasien, und wer Eurasien beherrscht, bestimmt die Geschicke der Welt.“ Deutschland befindet sich im westlichen Teil des Randgebiets.

Das 20.Jahrhundert lässt sich als Geschichte erzählen, in der die Vereinigten Staaten von Amerika als größte und mächtigste, aber geografisch weit entfernt liegende Demokratie gemeinsam mit eurasischen Verbündeten die Vorherrschaft autokratischer Mächte über den Doppelkontinent verhinderten. Heute droht Eurasien ein weiteres, von der Gefahr einer autokratischen Vorherrschaft geprägtes Jahrhundert. In diesen geopolitischen Rahmen betten sich Vergangenheit und Zukunft Deutschlands ein.

Die Mittelmacht Deutschland braucht eine Grand Strategy

Deutschland steht vor den größten Herausforderungen seit Jahrzehnten. An die Stelle einer vermeintlich dauerhaft friedlichen Welt ist eine aus der Geschichte bekannte Rivalität großer Mächte getreten, in der sich Deutschland als Mittelmacht orientieren muss. Die Verschlechterung der geopolitischen Lage fördert Vorbehalte gegenüber einer globalisierten Wirtschaft, die exportstarken deutschen Unternehmen gut tut. Im Inneren profitiert ein politischer Populismus von einer stagnierenden Wirtschaft und einem Rückzug des Staates aus Kernaufgaben. Ein Neustart ist in vielerlei Hinsicht notwendig.

In „Neustart für Deutschland. Mit einer Grand Strategy aus der Krise“ (Frankfurter Allgemeine Buch) beschreibt der renommierte Wirtschaftsjournalist und F.A.Z.-Herausgeber Gerald Braunberger den Weg aus der Krise 

Eine Grand Strategy sollte helfen, ein demokratisches, freiheitliches und der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtetes Deutschland in einer unruhigen Welt zu verankern. Der ursprünglich aus dem Militärwesen stammende Begriff Grand Strategy bezeichnet in der in den Vereinigten Staaten gebräuchlichen Anwendung den Abgleich der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ziele eines Staates mit seinen Ressourcen. Eine Grand Strategy spiegelt von der Mehrheit der Menschen getragene Grundüberzeugungen wider, die wie ein Kompass den Weg in einer unübersichtlichen Welt weisen. Sie stützt sich auf Fachwissen, darf aber nicht als Elitenprojekt verstanden werden. Eine Grand Strategy wird nicht von einer Regierung verabschiedet, sondern im rationalen Diskurs einer bürgerlichen Gesellschaft verhandelt.

Kein Abgesang auf die Idee des Westens

Trotz aller aktuellen Unsicherheiten ist eine mehr als einhundert Jahre alte Kontinuität im Bemühen der Vereinigten Staaten festzustellen, die durch wirtschaftliche Stärke oder Rohstoffreichtum gekennzeichneten Randgebiete des eurasischen Doppelkontinents gegen eine Herrschaft autokratischer Großmächte zu verteidigen. Von der Gefahr einer Überdehnung ihrer Macht bedroht, richtet sich das Interesse der Vereinigten Staaten derzeit vor allem auf das pazifische Randgebiet Eurasiens. Aber sowohl der Verlauf des jüngsten NATO-Gipfels als auch die Bombardierung iranischer Atomanlagen durch das amerikanische Militär sprechen gegen eine Abwendung der Vereinigten Staaten von anderen Randgebieten Eurasiens. Daher erscheint ein aufgeregter Abgesang auf die Idee des Westens zumindest verfrüht. Zu einer deutschen Grand Strategy gehören ein festes Bekenntnis zum Westen und zur NATO als einem starken, zur Abschreckung fähigen Verteidigungsbündnis, eine –wenn auch schwierige –Beziehungspflege zu den Vereinigten Staaten, die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit in Europa und gute partnerschaftliche Beziehungen zu wohlwollenden Nationen in anderen Weltgegenden.

“Eine Vitalisierung Europas ist möglich, aber nicht selbstverständlich”

Blickt man auf die Weltwirtschaft, zeigen geopolitische Spannungen, aber auch der sich ausbreitende Populismus ihre deutlichen Spuren. Doch ich bin der Überzeugung, dass trotz aller politischen Eingriffe etwa in Form von Zöllen oder Sanktionen die grundlegende Idee der Schaffung von Wohlstand durch wirtschaftliche Offenheit den Test der Zeit bestehen wird. Anders gesagt: Das Freihandelstheorem des britischen Ökonomen David Ricardo wird sich als stärker erweisen als die protektionistischen Neigungen amerikanischer und chinesischer Staatspräsidenten. Die Globalisierung ist ein dynamischer Prozess und kein statischer Zustand. Sie kann sich auch an ein schwierigeres Umfeld anpassen. Für Deutschland empfiehlt es sich, zusammen mit seinen europäischen Partnern eine Außenwirtschaftspolitik zu betreiben, die internationale Märkte so offen lässt wie möglich.

Viele Europäer stellen sich Europa als einen mächtigen Block innerhalb einer von großen Mächten dominierten Welt vor. Diese Hoffnungen muss man dämpfen. Denn es handelt sich um ein wirtschaftlich sklerotisches, von einer gewiss beeindruckenden Substanz lebendes, aber militärisch unterentwickeltes Europa, das noch auf lange Zeit keine Souveränität gegenüber den Vereinigten Staaten erreichen wird. Alternde europäische Gesellschaften werden sich im Wettbewerb mit dynamischen Nationen bewähren müssen. Eine Vitalisierung Europas ist möglich, aber nicht selbstverständlich. Sie sollte von Deutschland mitgetragen werden.

Die deutsche Vorstellung von Soft Power zerschellt an der brutalen Realität

Ein Bewusstseinswandel erscheint nicht nur in anderen Teilen Europas notwendig, sondern vor allem in einem Deutschland, das nach dem Fall der Berliner Mauer mental auch dann noch in einer friedlichen Welt verharrte, als diese Welt längst nicht mehr friedlich war. Die deutsche Vorstellung, die Welt werde künftig nur noch durch Soft Power regiert, zerschellte spätestens am 24. Februar 2022 an der brutalen Realität im Osten Europas. Der geplante erhebliche Ausbau der Verteidigungsfähigkeit durch die Politik, aber auch die Anerkennung der Notwendigkeit eines Ausbaus der Bundeswehr in einer Mehrheit der Bevölkerung stehen für einen Neustart, der Deutschland als Teil des Westens in der Verteidigung gegen eine Aggression autokratischer Mächte sieht. Die mit dem Aufbau militärischer Kapazitäten, aber auch mit der Modernisierung der Infrastruktur verbundene finanzielle Anspannung erfordert einen Neustart für die zuletzt in einer Stagnation befindliche deutsche Wirtschaft, die zu lange auf alte Stärken vertraute und zu wenig in moderne Technologien investierte. Eine an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ausgerichtete, auf eine Setzung guter Rahmenbedingungen anstelle eines planlosen Interventionismus vertrauende Politik kann die Voraussetzungen für eine Belebung der Wirtschaft schaffen.

Die Herausforderungen und Bedrohungen sind alles andere als gering. Doch weder der Westen noch Deutschland haben Anlass, dieser Welt mit Angst zu begegnen. Sie tragen ihr Schicksal in ihren eigenen Händen, aber sie müssen zu ihren Überzeugungen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten stehen.

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Gerald Braunberger trat nach Banklehre und Studium der Volkswirtschaftslehre 1988 in die Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein. Von 1995 bis 2004 war er Korrespondent in Paris und nach drei Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von 2007 bis 2019 Ressortleiter Finanzen in der F.A.Z. Seit 2019 ist Gerald Braunberger einer der Herausgeber. 2024 erhielt er den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik.

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