Advent, Advent, die Bude brennt – und du stehst mitten drin
Sei ehrlich zu dir: Siehst du im Dezember „Besinnlichkeit“ – oder eher volle Schichten, dünne Nerven, zähe Meetings, Budgetdruck und eine Mannschaft, die längst am Limit läuft?
Von Ben Schulz
Du führst ein mittelständisches Unternehmen. 200, 300, vielleicht 500 Leute. Produktion, Service, Schichtbetrieb, Projekte. Offiziell heißt es „Jahresendspurt“. In Wahrheit fühlt es sich oft an wie ein Belastungstest: für dein Geschäft, für deine Leute, für dich.
Und nein, das ist kein Luxusproblem empfindlicher Seelen. Die Zahlen dahinter sind hart.
Was in deinem Bauchgefühl steckt, zeigt sich in den Daten
Die DAK-Gesundheit wertet für ihren Psychreport jedes Jahr die Krankschreibungen von gut 2,4 Millionen erwerbstätigen Versicherten aus. Ergebnis: Die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen sind im Zehnjahresvergleich um rund 52 Prozent gestiegen.
Im Update zum Psychreport für 2024 heißt es: Psychische Diagnosen verursachten im Schnitt 342 Fehltage je 100 Beschäftigte in dieser Versichertengruppe. Psychische Erkrankungen lagen damit auf Platz 3 der Erkrankungsgruppen mit den meisten Ausfalltagen, mit einem Anteil von 17,4 Prozent an allen Fehltagen. Nur Atemwegs- sowie Muskel- und Skeletterkrankungen lagen darüber.
Übersetzt: In vielen Betrieben fällt ein erheblicher Teil der Arbeitszeit inzwischen wegen psychischer Themen aus. Depressionen, Anpassungsstörungen, Belastungsreaktionen. Das, was du als „alle sind irgendwie durch“ wahrnimmst, ist messbar.
Wenn du also das Gefühl hast, dass im Dezember die Luft dünner wird, bildest du dir das nicht ein. Du spürst eine Entwicklung, die längst in den Kennzahlen angekommen ist.
Der größte Druck kommt nicht von dir, sondern aus den Köpfen
Spannend wird es, wenn du dir anschaust, wo der Stress herkommt. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der KKH zeigt: Rund zwei Drittel der Erwerbstätigen, konkret 65 Prozent, sitzen in der Perfektionismus-Falle. Sie fühlen sich vor allem durch ihre eigenen Ansprüche unter Druck gesetzt, die Arbeit bestmöglich erledigen zu wollen.
Fast genauso stark wirkt der Zeitdruck im Alltag. 62 Prozent nennen ihn als zentralen Stresstreiber.
Heißt: Deine Leute rennen nicht nur, weil du Ziele setzt. Sie rennen, weil in ihren Köpfen ein Film läuft. „Ich muss das noch fertig machen. Ich darf mir keinen Fehler leisten. Der Tisch muss leer sein, bevor wir in die Feiertage gehen.“
Und du selbst? Wenn du ehrlich bist, kennst du diesen inneren Antreiber auch. Genau das macht den Advent so gefährlich. Objektive Last plus subjektiver Perfektionsdruck ergibt ein Klima, in dem ein Funke reicht.
„Ich bin stabil – die anderen wackeln“: das Führungsloch im Dezember
Jetzt kommt der Punkt, an dem es unangenehm wird. Eine Studie zur mentalen Gesundheit im Mittelstand, durchgeführt im Auftrag der ias Stiftung, zeigt ein klares Muster: 84,2 Prozent der befragten Führungskräfte schätzen ihre eigene mentale Gesundheit als mindestens stabil ein.
Bei den Teams sieht es anders aus. Nur etwas mehr als zwei Drittel, 69,6 Prozent, werden von ihren Führungskräften als mental stabil beschrieben. Rund 30 Prozent der Mitarbeitenden landen in einer Grauzone: aus Sicht der Führung weder eindeutig stabil noch klar belastet.
Das ist brisant. Du siehst, dass dein Team wackelt. Du hältst dich selbst für stabil.
Genau da entsteht das Führungsloch. Wer sich selbst für „fit“ erklärt, obwohl die eigenen Reserven längst angekratzt sind, achtet weniger auf die eigene Impulskontrolle. Der Ton wird schärfer. Geduld nimmt ab. Entscheidungen werden härter. Oft, ohne dass du das bewusst merkst.
Im Dezember siehst du die Folgen schneller: gereizte Stimmung, Missverständnisse, stille Kündigung im Kopf. Und du wunderst dich vielleicht, warum Zusagen auf einmal bröckeln und Loyalität dünner wird.
Wenn der Markt Druck macht, kippt das Klima noch schneller
Zu all dem kommt der äußere Rahmen. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat Beschäftigte gefragt, wie sie das Arbeitsklima in ihrem Unternehmen erleben. Ergebnis: In Firmen ohne wirtschaftliche Sorgen beschreiben 53 Prozent der Mitarbeitenden das Klima als gut oder sehr gut. In krisengeschüttelten Unternehmen sind es nur 34 Prozent.
Die Stimmung folgt der Bilanz. Wo Zahlen wackeln, rutscht das Miteinander schneller in Lagerdenken, Misstrauen und Zynismus.
Dazu kommen sehr konkrete Belastungen rund um Weihnachten. Eine Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Am Vormittag des 24. Dezember müssen 22 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten. Im Handel sind es 44 Prozent, in Verkehr und Logistik 40 Prozent, im Gastgewerbe 36 Prozent.
Also: Während ein Teil deiner Kundschaft „Feiertage“ ruft, steht ein relevanter Teil deiner Belegschaft noch im Laden, im Lager, auf der Straße, an der Maschine. Der Kalender verspricht Ruhe, die Realität fordert das Gegenteil.
Wo dein Hebel liegt: Hope & Trust Leadershi
An diesem Punkt kannst du zwei Haltungen einnehmen.
- Variante 1: „So ist das halt im Jahresendgeschäft. Da müssen alle durch.“
- Variante 2: Du erkennst, dass der Advent keine unvermeidbare Naturgewalt ist, sondern ein Führungstest.
Hope Leadership heißt:
Du stellst Handlungsfähigkeit her, wo Angst und Dauerkrise lähmen. Du sprichst offen darüber, was gerade los ist. Du gibst eine Perspektive über den 31.12. hinaus, die glaubwürdig ist. Keine Schönfärberei, sondern ein klares Bild: Wo wollt ihr im Frühjahr stehen? Was ist das Ziel hinter dem Stress?
Trust Leadership heißt:
Du führst als Beziehungssystem, nicht als Machtinstrument. Du machst dich ansprechbar. Du vertraust deinen Leuten Verantwortung an, statt im Dezember alles an dich zu ziehen. Du sagst auch einmal bewusst: „Das nehmen wir aus dem Dezember raus, damit ihr heil ins neue Jahr kommt.“
Hope & Trust Leadership ist kein Kuschelkurs. Es ist eine harte Entscheidung:
Führst du nur auf Zahlen – oder auch auf Energie, Vertrauen und Zukunftsbilder?
Drei klare Schritte für deinen Dezember
Was kannst du konkret tun, jetzt, mitten im Feuer?
- Ehrliche Bestandsaufnahme statt Heldenpose
Nimm dir eine Stunde. Ohne Telefon, ohne Mails.
Frag dich: Wie voll ist dein eigener Akku wirklich? Und der deiner engsten Führungskräfte? Nutze nicht dein Wunschbild, sondern dein Gefühl aus den letzten sieben Tagen.
Wenn du merkst, dass du gereizter, ungeduldiger, zynischer geworden bist, dann nimm das als Warnsignal. Nicht als Schwäche. - Symbolik vom Kalender trennen
Viele Themen sind nicht dringend, nur „Jahresend-getrieben“.
Geh mit deinem Führungsteam alle laufenden Pakete durch. Markiert, was aus harten Gründen bis Jahresende erledigt sein muss. Und was ihr bewusst ins nächste Jahr legt.
Du sendest ein starkes Signal, wenn du sagst: „Das hier schieben wir. Mir ist wichtiger, dass ihr halbwegs heil in die Feiertage geht, als dass jede Liste kosmetisch sauber ist.“ - Sichtbar führen mit Hoffnung und Vertrauen
Sprich mit deiner Mannschaft. Nicht nur über Kennzahlen. Sag klar, was du siehst: Belastung, Druck, auch Überforderung. Formuliere, wofür sich dieser Einsatz lohnt. Und sag, wo du sie schützt – zum Beispiel, indem du bestimmte Aufträge anders priorisierst.
Vertrau deinen Leuten Dinge an, die du bisher vielleicht selbst festgehalten hast. Zeig, dass du ihnen zutraust, Verantwortung zu tragen. Vertrauen spüren Menschen nicht in Leitlinien, sondern im Alltag.
Am Ende dieses Advents wird es zwei Arten von Führungskräften geben.
Die einen haben alles „irgendwie geschafft“, aber noch mehr Vertrauen und Energie im Unternehmen verbrannt. Die anderen sind durch dieselbe Zeit gegangen und haben ihre Leute trotz Druck als Hoffnungsträger geführt.
Die eigentliche Frage lautet:
Welche Spur hinterlässt du in deinem Unternehmen, wenn im Advent die Bude brennt?
- Stellenbeschreibung: Hoffnungsträger Führungskraft
- Ben Schultz im Lexikon des Chefwissens
- Ich kann nicht mehr
Ben Schulz ist Sparringspartner für Geschäftsführer und Führungsteams in klein- und mittelständischen Unternehmen, wenn es um deren Strategie und Transformationsprozessen geht. Sein neuestes Buch “Führungskräfte als Hoffnungsträger” wurde in kurzer Zeit zum Spiegel-Bestseller. Der Vorstand des Beratungshauses Ben Schulz & Partner AG legt den Schwerpunkt seiner Tätigkeit, gemeinsam mit seinem Team, auf die Schwerpunkte Unternehmensleitbildentwicklung, Kulturwandel, Führungskräfteentwicklung und strategischen Unternehmersparrings, bei denen es um die Steigerung von Perfomance geht. Mehr Infos






















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