Wachstum durch Weglassen
Vermeintlich Widersinniges: Wie kann Wachstum durch Weglassen entstehen?
Zunächst wollen wir mit einem unsinnigen Bild aufräumen: Die Forderung mancher Führungskräfte an ihre Mannschaft – und dies schließt manche Unternehmensführer ausdrücklich ein –, mehr als 100 Prozent zu geben (gern gehört ist: wir müssen zweihundert Prozent geben), ist wenig hilfreich, weil nicht erfüllbar. Sehr wohl mag dies funktionieren, wenn man den Umsatz des Vorjahres von – gesetzten – 100 Prozent auf 150 Prozent im nächsten Jahr steigern will.Von Menschen aber zu fordern, sie müssten 150 oder 200 Prozent geben, mag als Metapher herhalten, aber die Forderung führt in die Irre: Erstens hat jeder von uns nur 100 Prozent Energie zur Verfügung, ganz unabhängig vom Tages-Leistungsniveau, das durch Schlaf, Gesundheit und viele andere Faktoren beeinflusst wird, zweitens fehlt die Bezugsgröße, drittens entbehren solche Forderungen der Konkretheit und viertens ist jedem klar, der in Mathematik nicht geschlafen hat, dass mehr als 100 Prozent, also mehr als «alles» nicht geht. Auch aus einer Flasche Wein bekomme ich, trotz vielleicht des heimlichen Wunsches, nicht mehr als 100 Prozent heraus.
Grenzen erkennen
Unternehmen, in denen diese Forderung erhoben wird, fehlt es meist an einer Gedankenbrücke. Die Forderung, mehr als 100 Prozent zu geben, fußt häufig auf der Annahme, man müsse mehr machen, um zu wachsen. Mehr Produkte verkaufen, mehr Kunden besuchen, mehr Innovationen ins Leben rufen, mehr… Man ergänze hier selbst. Wachstumsintelligentes Verhalten aber besteht darin, die Grenze des «Mehr des Gleichen» zu erkennen und stattdessen Raum für Neues zu schaffen. In den meisten Unternehmen, die ich kenne, herrscht nämlich kein Mangel an Aktivität, sondern ein Mangel an Konzentration, an Fokus, an Wirksamkeit. Es wird immer nur etwas addiert unter der Annahme, dass man dies schon schaffen könne. Ein weiterer Jour-Fixe? Das bekommen wir schon hin. Ein weiteres Projekt? Irgendwie passt das schon. Eine Ausweitung der Variantenvielfalt im Produktspektrum? Das hat bisher doch immer gepasst. Den neuen gesetzlichen und steuerlichen Vorschriften entsprechen? Auch das werden wir schaffen. Es ist ein Trend beobachtbar, dass die Zeiten, die einzelnen Aufgaben gewidmet werden, immer geringer werden, die Anzahl der Aufgaben sich aber erhöht. Wird die Arbeitsweise nicht verändert, bedeutet dies entweder – im besten Fall –, dass Puffer besser genutzt werden und die Qualität bestehen bleibt, oder – im Regelfall, weil meist gar keine Puffer mehr vorhanden sind –, dass das Qualitätsniveau sinkt und Nachbesserungen, die wiederum Zeit kosten, drohen.
Freiräume schaffen
Die in wachstumsintelligentem Verhalten bestehende Kunst liegt darin, im Unternehmen regelhaft zu prüfen, was weggelassen werden kann, was nicht mehr getan werden muss, um Freiraum für Innovationen, für Neues zu schaffen. Dies sollte kein Projekt sein, sondern ein Prozess, der in der Kultur eines Unternehmens verankert ist. Hier folgen vier Beispiele:
1. Meetings
Viele Unternehmen, die ich kenne, litten unter «Meetingitis». Dies ist eine Krankheit, die sich darin äußert, dass man zu seinen «eigentlichen» Aufgaben gar nicht mehr kommt, weil man damit beschäftigt ist, sich von Meeting zu Meeting zu hangeln. Meeting Hopping ist die Folge. Therapie (Auswahl): Man streiche rigoros überflüssige Meetings, von denen es gar zu viele gibt. Überdies gehe man aus einem Meeting, das nicht in der Einladung bereits mit Zielen versehen war, gar nicht erst hin. Man verzichte auf jegliches soziales Geplänkel und fokussiere sich auf das Thema. Man lade nur die Teilnehmer ein, die auch wesentlich zum Thema beitragen können.
2. Produkte
Die meisten Produktkataloge sind zu lang. Sie sind über Jahre hinweg gewachsen, es wurden Varianten addiert, die Renner-Penner-Liste – Verzeihung: «Gängigkeitsliste» – weist mindestens im unteren Drittel Ladenhüter, Vertriebslieblinge (weil der eine oder andere vermeintliche Top-Kunde die Produkte doch einmal in zwei Jahren bestellt) und Marktflops aus.
Die Abhilfe: Man streiche bis zu einem Drittel des Produktspektrums sowohl in produzierenden als auch in Handelsunternehmen. Die verbleibende Vielfalt wird hinreichend sein, den Markt fokussierter zu bedienen – es sei denn, man ist Leistungsführer in seinem Marktsegment und kann deutlich höhere Preise als der Wettbewerb verlangen. Der Beweis indes, wird trotz Behauptung, man sei Leistungsführer, selten angetreten.
3. Kunden
Der Kunde hat bei uns immer recht, Wir müssen uns am Kunden orientieren, Der Kunde steht im Mittelpunkt, Alle Kunden sind uns gleich wichtig. Diese Aussagen sind klassische Wachstumsverhinderer. Nein, es haben nicht alle Kunden recht, manchmal bedeutet Kundenorientierung auch, dass man den Kunden Orientierung geben muss, mancher Kunde steht im Mittelpunkt und damit im Weg, und nicht jeder Kunde ist gleich wichtig.
Mein Rat: Man trenne sich von Kunden, die nicht mehr in die eigene Unternehmensentwicklung passen oder passen werden. Man übergebe diese Kundschaft getrost den Kollegenunternehmen und schaffe so den Raum, um sich mit den «idealen» Kunden zu beschäftigen, denjenigen Kunden, mit denen das eigene Unternehmen tatsächlich deutlich wachsen kann. Das setzt natürlich eine intensive Beschäftigung mit der Frage voraus, welches der «ideale Kunde» ist.
4. Projekte
Fast alle Unternehmen, die ich kenne, verfügen über eine zu umfangreiche Projekte-Landschaft. «Ich habe ein Projekt, also bin ich», das scheint ein ehernes Prinzip zu sein – ein Arbeitsplatzberechtigungsprinzip, mitunter. Unternehmen verfügen aber nicht über zu wenige Projekte, sondern über zu viele, und nicht selten sind bis zu fünfzig Prozent der internen Projekte überflüssig. Wohlgemerkt: Ich spreche nicht von wertschöpfenden Kundenprojekten, sondern vielmehr von internen Entwicklungs-, Verbesserungs-, Veränderungsprojekten. Wir haben mit unseren Klienten im Rahmen einer Methodik, die wir «Gesamt-Projektsteuerung» nennen, den Beweis mehrfach angetreten: Bis zur Hälfte der Projekte kann gestrichen werden, ohne dass ein negativer Effekt einträte. Im Gegenteil: Die Fokussierung der Ressourcen, die Begrenzung der Themen führt zu einer höheren Klarheit der Organisation und einer wesentlich stärkeren Wachstumswirkung, denn die frei werdenden Ressourcen können konzentriert auf den Markt gerichtet werden.
Wachstum erfordert Mut. Mut zum Freidenken, Mut zum Durchsetzen und Mut zum Weglassen. Mag dieses Denken anecken, hat es seinen Sinn erzielt.
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