![](https://ddwcdn.b-cdn.net/wp-content/uploads/2016/08/DeutscheWirtschaft_Kolummneng_grTeaser_Arnold-807x538.jpg)
Der blinde Fleck des Managements
Der Fokus auf Weisung und Kontrolle schränkt nicht nur die Werkzeuge, Prozesse und Handlungsspielräume ein, die genutzt werden können. Diese Fokussierung bei der Betrachtung von Organisationen schränkt unser aller Wahrnehmung ein.
Wir nehmen andere Formen der Unternehmensorganisation gar nicht erst wahr und blenden abweichende Verhaltensweisen systematisch aus. Genauso wie Menschen über Tausende von Jahren den Mond als flache, runde Scheibe gesehen haben. Erst seit sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass der Mond eine Kugel ist, können wir diesen als solche wahrnehmen.
Die Bedeutung des Teams bei der Mitarbeiterrekrutierung
Betrachten wir dazu ein Beispiel aus der Unternehmenspraxis – die Mitarbeiterrekrutierung. Ein Unternehmensverantwortlicher hört von Konzepten, in denen Mitarbeiter ihre Kollegen selbständig einstellen. Er schüttelt den Kopf und fragt kritisch: „Sind Mitarbeiter dazu denn überhaupt fähig? Führt das nicht eher dazu, dass gefällige und sympathische Kandidaten eingestellt werden statt kompetente, weil diese möglicherweise die Jobs anderer Mitarbeiter gefährden oder zumindest weniger angenehm machen?“ Derartige Bedenken hindern Unternehmensverantwortliche daran, die Einführung eines solchen Prozesses im eigenen Unternehmen auch nur ansatzweise oder schrittweise in Erwägung zu ziehen.
Höchstwahrscheinlich ist jedoch, dass diese Form von Einstellung durch Kollegen im eigenen Unternehmen längst gängige Praxis ist. In vielen Unternehmen beziehen Vorgesetzte ihr Team bei der Stellenneubesetzung aktiv mit ein und stellen diesem einen oder mehrere Bewerber vor. In einigen Unternehmen gibt es die Kultur von Schnuppertagen, in denen Kandidaten einen ganzen Tag zur Probe mit dem Team zusammenarbeiten. Anschließend befragt der Vorgesetzte das Team nach dessen Meinung. Kein guter Vorgesetzter stellt einen Kandidaten ein, wenn sich die Mehrheit der Mitarbeiter dagegen ausspricht. Die letzte Entscheidung trifft zwar formal der Chef, in der Realität hat die Teameinschätzung jedoch hohes Gewicht.
Guter Vorgesetzte beziehen das Team ein
Weil der Blick auf Organisationen geprägt ist durch die Management-Brille auf den Quadrant Weisung und Kontrolle, werden diese Vorgänge nicht so wahrgenommen, wie sie wirklich sind. Intuitiv werden Vorgesetzte weiterhin als diejenigen klassifiziert, die Einstellungsentscheidungen fällen. Beziehen Vorgesetzte das Team ein, wird dies häufig als persönliche, durchaus positive Besonderheit im Führungsstil gewertet, aber nicht als vorgegebener Prozess wahrgenommen. Vorgesetzte können das Team jederzeit übergehen. Auch in Unternehmenskulturen mit Schnuppertagen handelt es sich meist um keinen offiziellen, verbindlichen Prozess, sondern hat sich halt so eingespielt.
Dabei hätte eine Anerkennung als formeller Rekrutierungsprozess zahlreiche Vorteile. Er trägt nachweislich zur Qualitätsverbesserung von Einstellungsentscheidungen, einer erhöhten Akzeptanz von neuen Mitarbeitern und kürzeren Einarbeitungszeiten bei. Als offizieller Prozess könnte er mit Werkzeugen unterstützt werden. Andere Vorgesetzte könnten davon erfahren und sich dafür begeistern. Gute Vorgesetzte beziehen das Team ein, weniger gute werden durch keinen Prozess dazu angehalten. Ein nur befragender Einbezug des Teams führt zu weniger Ernsthaftigkeit als der verbindliche und entscheidende Einbezug.
Eigene Vorgehensweise wird als individuelle Abweichung bewertet
Dieser blinde Fleck betrifft nicht nur den Bereich der Mitarbeiter-Rekrutierung. Dieses Beispiel dient lediglich als gute Veranschaulichung, weil viele bereits miterlebt haben, dass dieser Prozess so oder in ähnlicher Weise gelebt wird – anders als es dieoffizielle Prozessdokumentation vorgibt. Darüber hinaus gibt es in Teams eine große Vielfalt an Formen der Zusammenarbeit, die häufig durch die jeweiligen Vorgesetzten geprägt werden. Aber selbst diese Vorgesetzte bewerten ihre eigenen bewährten Vorgehensweisen nicht als beispielhafte Prozesse, die dokumentiert, anderen zur Verfügung gestellt oder gar in Trainings geschult und verbindlich eingeführt werden sollten. Sie betrachten sie vielmehr als individuelle Abweichungen vom vorgegebenen Standard, die besser zu ihrem eigenen Führungsstil oder der aktuellen Aufgabenstellung passen. Sie haben gelernt, derartige Innovationen mit einem schlechten Gewissen – quasi unter dem Radar der Unternehmensvorgaben – zu leben, als sie mutig zu bewerben. Damit treten Führungskräfte zusammen mit ihren Teams bewusst in die Schattenorganisation ein, obwohl die zentralen Anweisungen weiterhin anderes vorgeben.
Agile Netzwerke agieren häufig noch im Freistil
Dieses Phänomen erklärt, warum Menschen und Teams in der Schattenorganisation keine Unterstützung erfahren: Es gibt wenige Handbücher, Trainings oder sichtbare Vorbilder. Auch für Mitarbeiter oder Führungskräfte in der Überforderung bieten Organisationen kaum Hilfestellungen – abgesehen von der Empfehlung von mehr Weisung oder besserer Kontrolle. Ein Ausweg aus der Überforderung könnte ein gut durchdachtes und eingeübtes agiles Netzwerk sein. Dieses fällt durch den blinden Fleck jedoch selten auf. Aber selbst agile Netzwerke agieren häufig (noch) im Freistil. Einzelne Teams führen autonom eigene Formen der Selbstorganisation ein – ohne dass diese vom Unternehmen unterstützt oder aufgegriffen werden.
Das Gegenteil ist der Fall: Häufig müssen agile Teams ihre Art der Zusammenarbeit zusätzlich zu ungeeigneten Unternehmensvorgaben durchführen und nicht selten sogar verdeckt leben. Als Beispiel sei hier das Festhalten an jährlichen Leistungsvereinbarungen genannt, obwohl diese für agile Methoden bestenfalls überflüssig, im schlechtesten Fall sogar hinderlich sind. Offiziell läuft alles auf den von Unternehmen vorgegebenen Systemen nach den vorgegebenen Prozessen. In der Realität arbeiten agile Teams dann aber häufig mit unternehmensfremden Systemen, um ihre Art der Arbeit optimal zu unterstützen.
Schreibe einen Kommentar