
Aufsichtsrat und Zeitdiebe
Was ist ein Zeitdieb? Ein Zeitdieb ist jemand, der uns die Minuten stiehlt, ohne dass wir es bemerken – oder schlimmer noch, ohne dass wir uns wehren können.
Von Rudolf X. Ruter
Man könnte meinen, die Menschheit hat mit Uhren ein Bollwerk gegen den Zeitverlust errichtet. Doch während an jeder Straßenecke die Ziffern leuchten und uns Handys penetrant mitteilen, wie spät es ist, bleibt die Frage: Warum haben wir dennoch so wenig davon?
Vielleicht liegt es daran, dass wir von Zeitdieben umzingelt sind. Die sogenannten „Uhrendiebe“ – jene Langfinger, die sich lieber auf Brequet und Co. stürzen, anstatt die Zeit an sich zu klauen – sind fast harmlos im Vergleich zu den subtileren Dieben.
Denn selbst mit einer Uhr, die mehrere 100.000 Euro kostet, tickt die Zeit nicht langsamer. Sie läuft genauso erbarmungslos weiter wie bei einem zehn Euro Digitalwecker vom Discounter. Die wahre Tragödie ist: Egal, wie teuer die Uhr, unsere Zeit bleibt gleich begrenzt.
Napoleon Bonaparte hat es treffend formuliert: „Es gibt Diebe, die von Gerichten nicht bestraft werden und den Menschen doch das Kostbarste stehlen, was er hat: nämlich die Zeit.“

Ein wahrer Feldherr, der nicht nur Schlachten, sondern auch die Tücken des Alltags durchschaut hat. Zeitdiebe begegnen uns überall: Der Freund am Telefon, der über die neue KI-App spricht, als ginge es um den Weltfrieden. Der Bekannte, der zufällig in der Stadt aufkreuzt und ein Gespräch führt, das bei Adam und Eva beginnt und bei den Zukunftsplänen der Haustiere endet. Und wehe, man wagt es, mit einem nervösen Blick auf die Uhr zu signalisieren, dass man eigentlich in Eile ist – unhöflich sei das, gar herzlos!
Manche Zeitgenossen scheinen mit der Zeit tatsächlich nur das Datum gemeint zu haben – und zwar das von gestern.
Warum sind Aufsichtsräte oft Zeitdiebe?
Warum sind diese edlen Kontrollorgane der Wirtschaft so oft in Verdacht, unsere Zeit zu stehlen? Ganz einfach: Weil Aufsichtsräte gerne reden. Sie lieben es, in epischen Monologen über Visionen, Quartalszahlen, Compliance-Richtlinien und „strategische Weichenstellungen“ zu referieren, während alle anderen heimlich ihre E-Mails checken. Und wehe, es gibt ein Problem! Dann wird der Sachverhalt in zehn verschiedenen Varianten diskutiert, nur um am Ende festzustellen, dass man keine Entscheidung trifft – „man müsse das erst noch vertieft prüfen“.
Das Problem? Der typische Aufsichtsrat sitzt lieber aus, als zu entscheiden. Die Uhr tickt, die Minuten vergehen – und die Beteiligten altern spürbar während einer einzigen Sitzung.
Was kann der Aufsichtsrat unternehmen, damit er kein Zeitdieb ist?
Ein gutes Zeitmanagement erlaubt keinen Raum für Zeitdiebe. Wer andere führen will, muss immer zuerst sich selbst führen können. Auch bzgl. seines Zeithaushalts. Und ein effizientes Zeitmanagement besteht aus:
- Agenda mit Haltbarkeitsdatum: Keine Sitzung ohne klare Tagesordnungspunkte, die in realistischer Zeit abgearbeitet werden können. Wer abschweift, bekommt ein akustisches Signal – vielleicht eine laute Kuckucksuhr, die unerbittlich ruft: „Zurück zum Thema!“
- Redebegrenzung: Warum nicht wie bei Debatten im Parlament? Jede Person bekommt maximal fünf Minuten Redezeit. Wer diese überzieht, muss für die nächste Sitzung den Kuchen mitbringen.
- Entscheidungsfreude fördern: Statt alles endlos zu diskutieren, könnte der Aufsichtsrat eine „Drei-Möglichkeiten-Regel“ einführen: Vorschlag A, Vorschlag B oder Vertagen. Wer auf Vorschlag C besteht, muss ihn mit einem Limerick verteidigen.
- Pausen mit Inhalt füllen: In Sitzungen gibt es oft Pausen, die eigentlich nur dazu da sind, um einen weiteren Kaffee zu holen. Warum nicht etwas Nützliches tun? Zum Beispiel eine Runde Gymnastik oder einen Schnellkurs in Speed-Decision-Making?
- Gamification der Sitzungen: Jede Sitzung erhält ein Ziel, wie in einem Computerspiel. Wenn das Ziel erreicht wird (z. B. „Budget für 2025 beschlossen“), gibt es Punkte. Wer am Ende des Jahres die meisten Punkte gesammelt hat, bekommt eine goldene Uhr – symbolisch, versteht sich.
Mit diesen Maßnahmen könnte jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied vom Zeitdieb zum Zeitretter werden – und uns allen etwas mehr von dem schenken, was ohnehin knapp ist: Zeit für die wirklich wichtigen Dinge. Wie Mittagsschlaf. Oder persönliche Fortbildung im Zeitmanagement mit Selbstreflexion.
- Richtiger Zeitpunkt für das Einsetzen eines Beirates erfordert Weitblick
- Kreativwerkstatt für den Aufsichtsrat der Zukunft
- Aufsichtsrat und Lagerfeuer-Strategie
Rudolf X. Ruter ist Wirtschaftswissenschaftler, Autor, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater. Er ist ein Experte für Aufsichtsräte und Beiräte, mit einem besonderen Schwerpunkt auf Themen wie Nachhaltigkeit und Corporate Governance. Sein „Podcast für den Aufsichtsrat“ erzielt regelmäßig hohe Reichweiten. Nach seiner Tätigkeit als Gesellschafter und Geschäftsführer bei Arthur Andersen baute er als Partner bei Partner bei EY (vormals Ernst & Young) den Geschäftsbereich Nachhaltigkeit in Deutschland auf und leitete diesen bis 2010. Ruter war von 2008 bis 2013 Leiter des Arbeitskreises ‚Nachhaltige Unternehmensführung‘ in der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. und Mitglied der Expertenkommission des Deutschen Public Corporate Governance – Musterkodex, der Deutschen Digitalen Beiräte und Beiräte Baden-Württemberg. Webpräsenz
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