Bilanzen sind sexy – wirklich!

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Bilanzen haben den Ruf, langweilige oder gar abschreckende Materie zu sein. Dabei sollten wir Jahresabschlüsse als das erkennen, was sie sind: Wundertüten mit überraschenden, unterhaltsamen und immer wieder verblüffenden Erkenntnismöglichkeiten.

Von Nikolaj Schmolcke

Am 10. August 2010, einem Dienstag, trat ich meinen neuen Job als Finanzchef eines luftfahrttechnischen Unternehmens an, das in diesem Jahr bis August einen Gewinn von ca. 50.000 EUR erwirtschaftet hatte. Das war nicht schlecht für ein Unternehmen dieser Industrie, denn im Sommer wird viel geflogen und wenig repariert, weswegen eine Reparaturwerkstatt für Flugzeuge in dieser Zeit normalerweise Verluste anhäuft. Aber während des Mittagessens an besagtem Dienstag eröffnete mir die Leiterin der Buchhaltung, es sei fehlerhaft bilanziert worden (»Niko, books are cooked«, die Bücher sind gefälscht), woraufhin ich alle Fake-Buchungen stornieren ließ und veranlasste, neu zu buchen, wie es sich gehörte. Es war viel Arbeit. Freitags, vier Tage später, hatte sich der Gewinn in einen Verlust in Höhe von sieben Millionen EUR verwandelt, was ziemlich genau dem Ausmaß der praktizierten Bilanzfälschungen entsprach.

Und kein Mensch außerhalb der Buchhaltung hatte es vorher bemerkt! Die Konzernrevision, das Zentral- und Bereichscontrolling und die Finanzabteilung der Muttergesellschaft hatten nicht nur die ausgefeilte monatliche Standardberichterstattung erhalten, sondern sich zudem bei mehreren Besuchen vor Ort über die Lage informiert, und niemand dieser gut ausgebildeten und intelligenten Fachleute hatte es gesehen. Wie konnte das sein? Es war doch so offensichtlich?!

Offene Geheimnisse

Seither beschäftigt mich das Phänomen, dass offenbar die wenigsten Menschen Bilanzen lesen können, schlimmer noch, dass Bilanzen den Ruf haben, langweilige oder gar abschreckende Materie zu sein.

Als Geschäftsführer einer Finanzholding arbeitete ich später viel mit Juristinnen und Juristen zusammen, die bei der Erwähnung bilanzieller Themen immer sehr freundlich lächelten. Hinter diesem Lächeln aber – so ahnte ich – verbarg sich vollkommene bilanzielle Leere. Irgendwann nahm ich meinen Mut zusammen und bot an, Grundlagen und Zusammenhänge einer Bilanz in einer kurzen Schulung zu erhellen. Die Resonanz war enorm, seither hat sich die Sache irgendwie verselbstständigt, und mittlerweile habe ich Tausende von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, Verantwortliche aller Etagen inklusive Aufsichtsrat, Unternehmensberaterinnen und Berater geschult. Allen war gemeinsam: Sie gingen davon aus, dass alle anderen Menschen Bilanzen lesen können, nur jeweils sie selbst nicht.

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Es konnte allen geholfen werden, denn Bilanzen sind zum Lesen gemacht.

Von Keilschrift, Bierdeckeln und EDV

Vor ein paar Tausend Jahren erfanden unsere Vorfahren in Mesopotamien die Keilschrift. Die Menschen ritzten mit Keilen Kerben in eine Lehmplatte, die sie anschließend in einem Ofen so steinhart brannten, dass sie bis heute halten. Die Kerben symbolisierten Aufzeichnungen der Buchhaltung. Warum sind die ersten Texte der Menschheit ausgerechnet Buchhaltung? Vielleicht, so könnte man spekulieren, hat ein Landwirt einem anderen Landwirt eine Kuh geliehen oder eine Kuhherde oder Säcke mit Saatgut oder dergleichen, auf jeden Fall etwas, das er eine Saison später bitte wieder zurückhaben wollte, mit Zinsen gegebenenfalls. Ein paar Monate später hatte einer der Beteiligten möglicherweise mit Gedächtnisschwierigkeiten und Erinnerungslücken zu kämpfen, und es kam zu Uneinigkeit darüber, was und wie viel der eine dem anderen zurückzugeben hatte. Uneinigkeit dieser Art kann schlimmstenfalls Menschenleben kosten. Die Lösung: Vereinbarungen beziehungsweise Aufzeichnungen mussten fälschungs- und witterungssicher sein, damit die Vertragsparteien sie eineSaison später noch entziffern konnten.

In seinem Buch „Offene Geheimnisse. Über die Leichtigkeit, Bilanzen zu lesen und im Geschäftsbericht Überraschungen zu finden“ versetzt Nikolaj Schmolcke mit zehn einfachen Fragen den Leser in die Lage, die entscheidenden Stellen zu finden und zu verstehen, was in einem Unternehmen los ist – auch ohne BWL-Studium. Erhältlich hier bei Econ / Ullstein.

Tatsächlich enthalten die ersten Aufzeichnungen der Keilschrift Schuldenlisten. Dass wir sie heute noch haben, resultiert aus einer Anforderung an Buchhaltung, die sich bis heute nicht geändert hat: Die Aufzeichnungen dürfen nicht veränderbar sein und müssen aufbewahrt werden können. Das Konzept der Kerben für Schulden hat bis heute gehalten, es findet sich auf den Bierdeckeln der meisten Kneipen; mit der begrenzten Haltbarkeit des Mediums wissen die Gastronomen umzugehen.

In den vergangenen Jahrhunderten lieferten die Abteilungen des Unternehmens die Belege der Transaktionen per Post oder Büroboten in der Buchhaltung ab. Die Buchhalter führten auf dieser Grundlage die Aufzeichnungen mit nicht löschbarer Tinte und nicht etwa mit Bleistift in speziellen Büchern, die dem Beruf den Namen gaben. Die Bücher zeichneten sich durch eine Sicherung aus, die den Austausch ganzer Blätter verhindern sollte: Die Fäden der Bücher waren mit kleinen Plomben aus Blei verklebt, sodass die Bücher nicht mehr verändert werden konnten, ohne sichtbare Spuren der Zerstörung aufzuweisen. Wer fehlerhafte Aufzeichnungen korrigieren möchte, kann und darf nicht löschen, sondern er muss stornieren und neu aufzeichnen. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts hat die EDV in die Buchhaltungen Einzug gehalten, sodass viele Aufgaben, wie beispielsweise das Schreiben einer Rechnung, die Auszahlung von Gehältern und viele weitere Aktivitäten, automatisch zu Aufzeichnungen in der Buchhaltung führen. Die Systeme der Buchhaltung breiten sich in Unternehmen wie eine Krake aus, ein berühmtes Beispiel hierfür stellt die Software der Firma SAP dar. Wer einmal eine Einführung von SAP oder anderen Buchhaltungsprogrammen erlebt hat, kann bestätigen, welch enorme Organisationsleistung erforderlich ist, um die Segnungen der EDV in der Form von auf Tastendruck verfügbaren Auswertungen genießen zu können.

Geschichten von Wahrheit, Lüge, Verrat, Hoffnung und Enttäuschung

Seit über 500 Jahren stellen Unternehmen also Bilanzen auf mit dem Zweck, dem Publikum wertvolle Informationen zu vermitteln (und deren Interpretation gleich mit). Und zwar jedem Menschen, nicht nur spezialisierten Fachleuten.

Sie müssen nicht Maschinenbau studieren, um Auto fahren zu können, und Sie müssen ganz sicher nicht Betriebswirtschaftslehre studieren, um Bilanzen lesen und interpretieren zu können.

Wenn Sie die Grundrechenarten beherrschen, können Sie Jahresabschlüsse als das erkennen, was sie sind: Wundertüten mit überraschenden, unterhaltsamen und immer wieder verblüffenden Erkenntnismöglichkeiten, denn: Sie bilden das bunte Wirtschaftsleben ab.

Wenn die Geschäftsleitung dieses Abbild aufpoliert oder vernebelt, führt genau dieser Eingriff ebenfalls zu einem Abdruck in der Bilanz. Daher gibt jeder Jahresabschluss nicht nur Informationen über das Unternehmen preis, sondern erzählt immer auch die Geschichte seiner eigenen Entstehung. Damit verwandeln sich Abschlüsse in Geschichten von Wahrheit, Lüge, Verrat, Hoffnung und Enttäuschung. Bei Betrachtung einzelner Aspekte im Verlauf mehrerer Jahre geben Bilanzen ihre Geheimnisse preis und entfalten Geschichten voller Dramatik, die mitunter auch Aufstieg und Untergang einzelner Persönlichkeiten des Managements beleuchten.

Genau diese Vielfalt macht die Materie so spannend und anziehend – sexy eben.

Nikolaj Schmolcke, geboren 1965, studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitete dann für PWC. Im Anschluss war er für die Lufthansa Group und als Geschäftsführer einer mittelständischen Finanzholding tätig. Danach leitete er das Rechnungswesen der Vapiano-Gruppe und wurde nach deren Insolvenz Vorsitzender des Aufsichtsrates. Er hat mittlerweile ̧über 100 Jahresabschlüsse erstellt und trainiert Manager, Aufsichtsräte, Betriebsräte und Juristen in der Kunst, Bilanzen zu lesen.

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