ChatGPT: Neues von der Zauberkiste

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Wir werden Zeitzeugen einer neuen Ära: Mit ChatGPT ist erstmals eine für breite Anwenderbereiche einfach zu bedienende Künstliche Intelligenz für die Erstellung von Inhalten aller Art verfügbar. Was auf uns zukommt und wie Unternehmen es nutzen können, dazu sprach DDW-Herausgeber Michael Oelmann mit dem ChatGPT-Experten Frank Kottler.

Frank Kottler, 28, berät Unternehmen in ihrer KI-Strategie und beim Einsatz von ChatGPT. Herausgekommen ist ein Gespräch über Implikationen, Einsatzgebiete und Zukunftsszenarien.

Michael Oelmann: Was ist ChatGPT? Gibst Du uns eine kurze Einschätzung?

Frank Kottler: Typisch deutsch gesprochen: ein Chatbot, der endlich mal funktioniert! Im Ernst aber: ChatGPT ist ein KI-Sprachmodell, das in seiner Genauigkeit und Verständnistiefe selbst KI-Insider gehörig überrascht hat. Es kann über fast jedes Thema in jeder Sprache sprechen, dank seines Trainings mit 45 Terabyte an Texten aus dem Internet – grob gesagt, einige zehn Millionen Bücher. Das macht ChatGPT aus meiner Sicht spannend für jeden Einzelnen von uns: Ob ich ein Rezept für meine Reste im Kühlschrank brauche oder doch lieber ein Executive Briefing für die Themenrallye auf dem Weltwirtschaftsforum, ChatGPT hilft, wo es kann.

Michael: Für welche Nutzungsthemen kommen Unternehmen zu Dir?

Frank: Als ChatGPT Ende November 2022 veröffentlicht wurde, da haben sich als erstes die Marketingagenturen und Tech-Begeisterten wie ich drauf gestürzt. Verständlich, die Use Cases drängen sich in dem Gebiet gerade nur so auf: Nie wieder Schreibblockade, nie wieder kreatives Loch! Und: ChatGPT spricht nicht nur Deutsch und Englisch, sondern auch fließend Java, C# und Python. Diesen Fachbeitrag noch eben in eine LinkedIn-Post-Serie, eine Infografik, und einen News-Beitrag für die Webseite ummünzen? – Kein Problem, reicht es dir in 2 Minuten? Aber nach nur wenigen Wochen kamen Unternehmen mit tiefergehenden Fragen auf mich zu. Ganz vorne mit dabei immer diese beiden Themenfelder: Wie können wir den Effizienzgewinn operationalisieren – und wie werden wir kreativer?

Steuern ermitteln (auch als Gedicht), Website aus Handskizzen programmieren:
Das kann die neueste Version von ChatGPT

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Greg Brockman, Präsident und Co-Gründer von OpenAI, stellte in einer Entwickler-Demo am 14. März einige Features der neuesten Version GPT-4 vor, die wir hier dokumentieren (englisch).

Michael: Damit wäre ChatGPT besonders interessant für die Unternehmen, deren organisationales Wissen vorrangig in natürlicher Sprache vorliegt.

Frank: …Weil ChatGPT eines besonders gut kann: Große Informationsmengen schnell erfassen und Zusammenhänge herstellen. In meiner Arbeit überrascht mich immer wieder: Oft sind die spannendsten Use Cases die, die wir gemeinsam mit ChatGPT entdecken. Mit einer Managementberatung arbeite ich z.B. gerade daran, aus wechselnden Kundenanforderungen automatisch passende Projekt- und Workshopkonzepte zu generieren. Und ein Technologiestartup, das ich betreue, hat seinen kompletten Innovationsprozess neu ausgerichtet, um ChatGPT bestmöglich in den Prozess zu integrieren. Das Ergebnis: mehr Ideen in kürzerer Zeit, ein besseres Marktverständnis und schnellere Ideenvalidierung.

„KI wird in den nächsten drei bis vier Jahren die meisten Bereiche unseres Lebens und unserer Arbeit in ungekannter Weise verändern“

Michael: ChatGPT ist in der öffentlich zugänglichen Version geradezu kinderleicht zu nutzen – es kann eben in natürlicher Sprache bedient werden. Was müssen Unternehmen können, um es professionell einzusetzen?

Frank: KI einzuführen ist das eine, aber wer bedient sie? Wie nehme ich meine Mitarbeiter in der Veränderung ihres Arbeitslebens mit? Wo finden wir die richtigen Skills? Wie arbeiten gemischte Mensch-KI-Teams in der Zukunft? Wie nutze ich KI verantwortungsvoll und effektiv im Kontext meiner Gesamtstrategie und unternehmerischen Werte? Und wie managen wir unsere Daten, um die KI mitlernen zu lassen? Das ist nur eine kleine Auswahl der Fragen, die sich Unternehmen abhängig von ihrem KI-Reifegrad stellen müssen, wenn sie KI operationalisieren möchten.

Michael: Aus meiner Sicht stehen wir vor einem „Quantensprung“ in der Nutzung von KI und am Beginn eines exponentiellen Wachstums in der Anwendung. Es gibt keine „Sprachbarrieren“ mehr zur KI, wie Programmierfähigkeiten. Sie wird deshalb in den nächsten drei bis vier Jahren die meisten Bereiche unseres Lebens und unserer Arbeit in ungekannter Weise verändern – mehr, als es das Smartphone tat. Wie siehst Du das?

Frank Kottler studierte Wirtschaft, Innovation und Philosophie an den Universitäten Reutlingen, Vechta, Hamburg, Gadjah Mada (Indonesien) und Macquarie (Australien) und ist heute Berater für KI-Strategie und -Umsetzung in der Arbeitswelt

Frank: So schätze ich das auch ein. ChatGPT ist schon jetzt die am schnellsten wachsende Online-Plattform aller Zeiten und hat nach zwei Monaten am Markt bereits das gleiche Suchinteresse erreicht wie das erste iPhone in mehr als der doppelten Zeit. Auf dem Suchtrend-Barometer ist es dennoch nur ein winziger Ausschlag. Wir stehen also erst ganz am Anfang einiger aufregender Entwicklungen. Wie tiefgreifend die Veränderung ist, sehen wir zum Beispiel im Bereich Bildung: Hausarbeiten, Seminararbeiten und auch Teile von Diplom- und Doktorarbeiten lassen sich längst von ChatGPT zumindest im ersten Entwurf vorschreiben – und schon steht das Bildungssystem vor einer ganzen Reihe an existentiellen Fragen: Wie sehr wird akademisches Schreiben noch eine wissenschaftliche Kernkompetenz bleiben? Wie wird unser Bildungsbegriff von KI verändert werden? Wie muss sich die Lehre methodisch verändern und wie kann sie KI-Kompetenz so vermitteln, dass KI unsere Forschung und Lehre im Zusammenspiel mit dem Menschen bereichert und nicht etwa gefährdet? – In meinen Augen stehen wir vor einer waschechten gesellschaftlichen Disruption, wie sie im Buche steht.

Michael: Und warum auch nicht: Schul- oder Uniarbeiten mit ChatGPT erledigen? Wahrscheinlich wäre es einem Arbeitgeber sogar lieber, wenn er einen jungen Absolventen einstellt, der diese Technologie zu nutzen weiß, als einer, der es nicht tut. Aber man kann an diesem Punkt schon erahnen, was das für die Ausbildung von Kenntnissen und Denkfähigkeiten bedeuten wird. Die Fähigkeit, solche Systeme richtig zu nutzen, wird die eine entscheidende Fähigkeit sein. Und zweitens gelangen wir sogleich an die Frage, wie eigentlich die Richtigkeit von solchen Ergebnissen bewertet werden soll und wer das vermag.

Frank: Genau. Denn ChatGPT arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten und Zufall, um Kreativität zu imitieren. Da treten natürlich auch Fehler und manchmal unsinnige Ergebnisse auf. Zumal in der aktuellen Version Ereignisse nach 2021 gar nicht von ChatGPT erfasst sind. Aber das grundsätzliche Problem bzw. Gefahrenpotential bleibt: dass auch falsche oder tendenziöse Ergebnisse herauskommen und wir die Frage noch nicht beantwortet haben, ob und wie solche Ergebnisse gefiltert oder markiert werden sollen. Damit sind wir nun mittendrin in einer spannenden Diskussion rund um KI-Ethik, Deutungshoheit und Gedankenfreiheit. Warum schreibt mir ChatGPT z.B. ein schmeichelhaftes Gedicht über Söder oder Laschet, verweigert mir aber ein schmeichelhaftes Gedicht über Scheuer oder Seehofer?

Michael: Welche Probleme oder Fehler begegnen Dir noch?

Frank: Beim Einsatz von KI in Unternehmen ist doppelte Vorsicht geboten. Organisationen sind per se selbstreferentielle Systeme und greifen wie KI auf bewährtes Wissen zurück: Was gut funktioniert, wird wiederholt, was nicht klappt, fliegt raus. So entsteht Bias. Das berühmteste Beispiel für solche „blinden Flecken“ sind KI-Systeme für die Bewerberauswahl. Selbst wenn ich das Merkmal „Gender“ explizit für die KI-Auswertung sperre: Wenn die KI in dem Hobby „Fußball spielen“ und einer großen Schuhgröße eine statistisch auffällige Überschneidung mit den Merkmalen der Führungskräfte in meinem Unternehmen erkennt – dann werden auch von einer KI in einer männlich dominierten Führungskräftedemographie doch wieder indirekt Männer bevorzugt, „weil es schon immer so war“.

Michael: Dazu kommt die oft geäußerte Befürchtung, dass KI die Kontrolle übernehmen könnte, dass wir in informationellen Scheinwelten leben werden. Also Dystopien wie im Film „Matrix“, woraus wir ja auch das Beitragsbild gewählt haben. Fangen wir mal klein an: Können wir überhaupt noch wissen, welche Inhalte von einer KI kommen?

Frank: Hier herrscht bereits so eine Art Wettrennen. KI-Checker können solche Texte erkennen, aber auch falsch-positive Signale geben, wenn ein Text einfach nicht einfallsreich oder grammatikalisch zu korrekt ist. Und KI-Bots sind mittlerweile in der Lage, leichte Unzulänglichkeiten absichtlich auszugeben, um diese „menschlicher“ erscheinen zu lassen oder KI-Checker auf eine falsche Fährte zu lenken. Aber man sollte die „Bedrohung“, trotz aller Fragestellungen, nicht überbewerten – sondern lieber in den richtigen Kontext setzen: ChatGPT ist ein generatives Modell, trotz seines komplexen neuronalen Netzwerks ist das grundlegende Funktionsprinzip doch ziemlich einfach: ChatGPT wählt die wahrscheinlichste Wortfolge aus, die auf den sogenannten „Prompt“ zu folgen hat – und mischt dabei noch absichtlich eine Prise Zufall mit rein, damit die Abwechslung nicht verloren geht. Diese Modelle sind weder dafür gemacht, neues originäres Wissen zu erzeugen, noch einhundert Prozent Faktentreue zu liefern – sie sind vielmehr ein neues Werkzeug in meiner Kiste, um aus meinen eigenen Ideen, Hinweisen und Stilvorgaben qualitativ hochwertige Medien wie Texte oder Videos zu erzeugen. Sie formt also das, was in meinem Kopf ist so um, dass andere möglichst viel damit anfangen können. Müssen wir uns davon bedroht fühlen? In manchen Bereichen vielleicht schon, z.B. in der politischen Kommunikation. Deswegen sollten wir KI aber nicht pauschal ablehnen, sondern ihren Einsatz und die gesellschaftlichen Spielregeln mitgestalten.

„Eine KI erzeugt kein neues Wissen. Wohl aber kann sie dabei helfen, vorhandenes Wissen in einen neuen Kontext zu bringen“

Michael: Wenn die KI nur auf bestehendes Wissen zurückgreifen kann, werden die Ergebnisse nicht letztlich redundant und rekursiv? Man muss ja davon ausgehen, dass wir eine exponentielle Produktion von automatisierten Inhalten erleben werden, aber nicht von deren Daten-Grundlagen.

Frank: Ganz klar, hier müssen die Entwickler Wege finden, damit sich die KI nicht mit ihren eigenen Inhalten „verselbstoptimiert“. Wobei ich noch einen anderen Aspekt anmerken möchte: Nämlich, dass wir alle, die wir ChatGPT verwenden, selbst an der Verbesserung der KI mithelfen, da die vielfältigen Nutzungsarten wieder in den selbstlernenden Algorithmus einfließen. Wohlgemerkt: Wir reden schon heute über zig Millionen Nutzer täglich.

Michael: Ein anderes Folgenszenario: Ich könnte mir vorstellen, dass künftig gesichert nicht-automatisierte Wissensinhalte eine Aufwertung erfahren könnten – quasi eine Wertsteigerung für „altes Wissen“, so wie bei alten originalen Gemälden oder anderen „echten“ Gegenständen…

Frank: Du bringst mich zum Schmunzeln. Ich stelle mir gerade eine nicht allzu ferne Zukunft vor, in der wir nostalgisch auf 2022 zurückblicken und über uns selbst lachen werden: „Damals wurden Texte noch von Menschen geschrieben.“ Aber richtig: Eine KI erzeugt in ihrem heutigen Entwicklungsstand kein neues Wissen. Wohl aber kann sie mir dabei helfen, vorhandenes Wissen in einen neuen Kontext zu bringen, z.B. durch Umformungen, aber auch durch den Transfer in eine andere Domäne. Die nötigen neuen Erkenntnisse daraus muss ich aber schon selbst generieren, vielleicht wiederum KI-unterstützt, auf jeden Fall aber Kopf-unterstützt.

Michael: Ich bleibe nochmal bei der vermutlichen „Explosion“ von durch KI erzeugten Inhalten. Ich las in Bezug auf meine Branche, den Journalismus, und auch für die PR- und Werbebranche, im Magazin Horizont den interessanten Gedanken, dass als Marktgesetz dann eben der Wert eines Inhalts oder Artikels sinken wird – einfach weil jeder massenhaft Inhalte durch KI erstellen kann, mit einem Fingerschnipp.

Frank: Hinzu kommt: Ich brauche ja gar keinen Intermediär mehr. Ich lasse mir als Leser oder Nutzer nicht nur die Texte, sondern auch die Auswahl von Nachrichten oder Inhalten von der KI generieren. Wenn wir hier über die weitreichenden Auswirkungen Vermutungen anstellen, könnte man diesen Effekt sogar auf das Feld der Medizin oder der beratenden Berufe wie Anwälte und Steuerberater erweitern.

„Die Google-Leute haben Schweißperlen auf der Stirn. Ihnen droht zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten die Disruption“

Michael: Und es könnte das Ende des Internets bedeuten, wie wir es kennen: als ein Ökosystem aus frei zugänglichen Webinhalten. Denn der Besuch einer Website ist letztlich nicht mehr nötig: der Chatbot generiert mir ja die Inhalte. Diese Tendenz haben wir in den letzten Jahren schon verstärkt gesehen, beispielsweise bei Google durch die hervorgehobene, ausführlichere Anzeige eines Suchergebnisses als obersten Eintrag. Ziel war ja schon hier, dass ein Nutzer die Google-Welt gar nicht mehr verlassen muss bzw. soll.

Frank: Noch mehr: Selbst das „Geschäftsmodell Suchmaschine“, wie wir es kennen, wird hinfällig. Statt Linksammlungen, erhalte ich jetzt fertige Lösungen auf meine Fragen. Genau darum haben die Google-Leute Schweißperlen auf der Stirn. Ihnen droht zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten die Disruption.

Michael: Und es würde bedeuten, dass überhaupt die Arbeit, eigene Inhalte kostenfrei für seine Besucher auf der eigenen Website zu verfassen und zu veröffentlichen, sinnlos werden könnte – oder zumindest kein Geschäftsmodell mehr darstellt. Man würde ja letztlich nur zum Hilfsarbeiter für ChatGPT oder Googles’s Bard, ohne dass in der bisherigen „Währung“ – Traffic oder Klicks – zurückgegeben würde.

Frank: Jedenfalls werden wir umdenken müssen, wie wir unternehmerische oder journalistische Informationsangebote attraktiv machen. Wir werden mit neuen Wegen und User Experiences experimentieren müssen, damit unsere Zielgruppen gerne unsere Webseiten besuchen. Vielleicht sollten wir auch ein eigenes, maßgeschneidertes KI-Angebot in unsere Webseite integrieren? ChatGPT, Bing AI und Co. mögen in ganz vielen Dingen sehr gut sein – aber wenn ich diese Modelle auf meine Use Cases trainiere und zuschneide und dann in mein eigenes Online-Angebot integriere, dann kann ich meinen Usern meine Inhalte doch wieder viel gezielter, persönlicher und personalisierter anbieten als es die generalistischen Allzweck-Tools können.

Michael: Um den Kreis wieder zu schließen: Wir stehen tatsächlich am Anfang all solcher Fragestellungen. Ich denke aber, wir sind uns eins: Die Nutzung und Entwicklung werden jetzt in atemberaubendem Tempo voranschreiten, mit oder ohne Antworten auf all diese Implikationen.

Frank: Und als Unternehmen wäre es schlau, sich lieber früher als später damit zu beschäftigen. Das Schöne an einer solchen bahnbrechenden Innovation: Wir stehen alle an der gleichen Startlinie und haben jetzt alle die gleichen Chancen, den Anschluss beim Thema KI in der Businesswelt nicht zu verpassen. Denn Disruption können wir nicht aufhalten. Aber wir können sie gestalten.

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Kontakt zu Frank Kottler 

Bild oben: Keanu Reeves in The Matrix Resurrections (2021). (Imago / Warner Bros. / The Hollywood Archive PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xx 34275-025THA

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