Das Sozialsystem hat wirtschaftliche Grenzen

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Begriffe wie Bürgergeld, Kindergrundsicherung, Grundrente und Mindestlohn sind regelmäßig Begriffe der politischen und ökonomischen Debatte. Sozialpolitik ist ein wesentlicher Faktor der Legitimation der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geworden. Dabei übernimmt der Staat immer mehr die Funktion des Garanten für ein auskömmliches Leben.

Von Professor Dr. h.c. mult Roland Koch

Die Begründungen sind vielfältig: Sie beginnen bei der Bekämpfung von Kinderarmut und enden bei dem verfassungsrechtlich gesicherten Existenzminimum. Subsidiarität, also das Prinzip, dass zunächst die kleinste Einheit für sich selbst sorgt, verliert an Bedeutung. Ebenso wie auf der Seite der wirtschaftlichen Aktivitäten, immer mehr durch staatliche Regulierung vorgegeben, so wird das Leben auch auf der Seite der sozialen Lebensbedingungen erst standardisiert und dann alimentiert.

Es darf nicht jeder die Hand in der Tasche des anderen haben

Ludwig Erhard konnte damit wenig anfangen. So schrieb er 1957 „Ich bin […] erschrocken, wie übermächtig der Ruf nach kollektiver Sicherheit im sozialen Bereich erschallte. […] falls diese Sucht weiter um sich greift, [schlittern] wir in eine gesellschaftliche Ordnung […], in der jeder die Hand in der Tasche des anderen hat. Das Prinzip heißt dann: Ich sorge für die anderen und die anderen sorgen für mich. […] Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: ´Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein.`“

Wer ist eigentlich arm? Teilweise wird der Begriff „Armut“ noch von den schockierenden Verhältnissen im 19. und frühen 20. Jahrhundert geprägt. Selbst in den damals vergleichsweise reicheren Ländern – wie z. B. England und Deutschland – hatten viele Millionen Menschen nicht genug zu essen, trugen zerschlissene Kleidung und lebten in erbärmlichen Wohnungen. Ein ähnliches Schicksal trifft heute immer noch mehr als 800 Millionen Menschen in den Entwicklungsländern, auch wenn die globalisierten Märkte diese Zahl sehr deutlich reduzieren konnten. In Deutschland sorgen die sozialen Sicherungssysteme dafür, dass keiner frieren oder hungern muss. Es geht zu Recht um mehr, die Soziale Marktwirtschaft wird auch mit dem Anspruch verbunden, dass man am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Der Gesetzgeber bezeichnet als armutsgefährdet die Personen, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) beträgt.

Der Wettbewerb um die höchsten Sozialleistungen ist gefährlich

Bild Roland Koch
Der ehemalige Hessische Ministerpräsident Professor Dr. h.c. mult Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung

Wenn man sich die Daten der Meinungsumfragen ansieht, kann man gut ablesen, dass eine große Zahl von Menschen die Einkommensverteilung als sehr ungerecht empfindet. Damit wird die Umverteilung zu einem attraktiven Wettbewerbsfeld für die politischen Parteien. Wir leben in einer politischen Umgebung des „Wer bietet mehr?“. Erst wurde der Mindestlohn eingeführt, mit dem Feigenblatt einer Tarifkommission; dann wurde im Wahlkampf ein politischer Mindestlohn versprochen und durchgesetzt. Zuvor war es schon die Rente mit 63, die sogar Andrea Nahles heute für nicht mehr vertretbar hält. Dann kam das sogenannte Bürgergeld, das faktisch zu einem Wettbewerber zur regulären Arbeit wird. Bei einer Familie mit zwei Kindern trennen heute Arbeit und Staatsalimentation oft nur noch wenige hundert Euro.

Kinderarmut wird missbraucht

Nun ist die Bekämpfung der Kinderarmut der nächste Punkt auf der Agenda der umfassenden staatlichen Fürsorge. Eine der Begründungen des neuen Systems, das wohl bis zu 500 Millionen Euro zusätzliche Verwaltungskosten erfordert, ist auch die Feststellung, dass viele Familien die bisherigen Hilfen nicht in Anspruch nehmen. Das wird nicht als eine freie Entscheidung dieser Familien, sondern als ein Versagen des Staates fehlinterpretiert. Eine solche Logik hat mit Subsidiarität nichts mehr zu tun. Um diese neue, irgendwie zwischen zwei und 12 Milliarden Euro kostende Sozialleistung plausibel zu machen, spricht die Regierung von einer Zunahme der Kinderarmut. Das ist nachweislich falsch. Die Kinderarmut ist seit 2015 um fast ein Drittel gesunken. Man muss schon die Zahl der seither eingewanderten Kinder ausländischer Herkunft hinzunehmen, um zu einer stärkeren Armut zu kommen. Niemand will diesen Kindern die Unterstützung verweigern, aber zur Verfälschung der Statistik und zur Ignoranz der Erfolge der Armutsbekämpfung durch mehr Beschäftigung dürften sie nicht missbraucht werden.

Wir sind dabei, die Leistungsfähigkeit eines sehr erfolgreichen Industrielandes zu überdehnen. Die Sozialquote, also alle Sozialleistungen im Verhältnis zum Volkseinkommen, lag im Jahr 2022 bei 30,5 Prozent. Die Herausforderungen der kommenden Jahre werden, wie Bundesfinanzminister Christian Lindner zu Recht in seiner Rede zum Bundeshaushalt festgestellt hat, es nicht zulassen, diese Sozialquote zu steigern. Im Gegenteil, sie wird bei den vielfältig nötigen Einsparungen nicht unangetastet bleiben.

Ganz paradox wird es, wenn, wie jetzt im Bundeshaushalt geplant, Arbeitsfördermaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit gekürzt werden, die Regelleistungen aber steigen. Wenn zum Fordern die nötige Starthilfe fehlt, bleibt nur die anstrengungslose Förderung, und das ist falsch.

Es bleibt ein erstrebenswertes Ziel, dass jeder, der Vollzeit arbeitet, davon auch angemessen leben kann. Aber ein Mindestlohn für Teilzeitbeschäftigte reduziert in Wahrheit die Beschäftigungschancen und ein Bürgergeld mit zu hohen Auszahlungen reduziert den Beschäftigungswillen. Zusätzlich regelt der Staat die Arbeitszeiten so kleinteilig wie möglich, und die Bevölkerung träumt mit Hilfe einiger Gewerkschaften von der 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich.

Kein Wohlstand ohne Anstrengung

In einer solchen politischen Umgebung ist es schwierig, davon zu sprechen, dass Wohlstand nicht ohne Anstrengung zu erreichen ist. Aber es bleibt richtig und es muss allen Bevölkerungsschichten abverlangt werden. Jedes Einkommen – auch das Mindesteinkommen – muss erarbeitet werden und erfordert von gesunden Menschen Anstrengung.

Eine soziale Ordnung, die die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nicht mehr als Maßstab der möglichen sozialen Leistungen anerkennt und damit diese Leistungsfähigkeit überfordert, gefährdet den sozialen Frieden und die angemessene Versorgung der tatsächlich auf Hilfe angewiesenen Betroffenen. Vor dieser Gefahr hat Ludwig Erhard immer gewarnt. Diese Warnung ist auch in diesen Tagen angebracht.

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Professor Dr. h.c. mult. Roland Koch ist seit November 2020 Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung. Koch war bis von 1999 bis 2010 Hessischer Ministerpräsident. Altbundeskanzler Ludwig Erhard gründete 1967 die Ludwig-Erhard-Stiftung und gab ihr die Aufgabe, für freiheitliche Grundsätze in Wirtschaft und Politik einzutreten und die Soziale Marktwirtschaft wachzuhalten und zu stärken. Die Stiftung ist von Parteien und Verbänden unabhängig und als gemeinnützig anerkannt. Sie tritt politischem Opportunismus und Konformismus mit einem klaren Leitbild entgegen: Freiheit und Verantwortung als Fundament einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für den mündigen Bürger. Infos

Eine Antwort zu “Das Sozialsystem hat wirtschaftliche Grenzen”

  1. Alles richtig, aber wen interessiert das…: Im Volk, in der Politik, wo man wieder gewählt werden möchte um den geringsten Widerstand, – der jenige, die verbrauchen bis nichts mehr übrig ist, außer Chaos und Radikalität, womit man wiederum dafür sorgt, sich schadlos halten zu können?!

    Unser Staat als zunehmend „ewiger“ Retter aller Nöte sorgt für ein künstliches System mit stetem und immer kurzfristigerem Justierungbedarf, um sich immer unentbehrlicher zu machen. Bis zum Kollaps.
    Wer mag sich schon freiwillig mit Realitäten, wie Christian Lindner sie sehr sinnreich und beim Namen nennt, auseinander setzen. Und wer nimmt nicht offensichtlich lieber, als mal was zu geben?

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