Der alte weiße Mann

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Ein kultureller Bürgerkrieg spaltet unsere Gesellschaft. Für alle Übel und das Böse in unserer Welt haben die Kulturrevolutionäre der Politischen Korrektheit einen Sündenbock gefunden: den alten, weißen Mann. Doch das Gegenmodell ist Infantilität.

Von Prof. Dr. Norbert W. Bolz

Ein kultureller Bürgerkrieg spaltet unsere Gesellschaft. Nicht Argumente, sondern Hass und Wut bestimmen die Auseinandersetzungen über die großen Themen unserer Zeit: Klimawandel, Massenmigration, Ukraine-Krieg und das Verhältnis der Geschlechter. Die politische Atmosphäre ist vergiftet vom Geist der Rache. Ein wesentlicher Grund für die Spaltung unserer Gesellschaft liegt darin, dass wir zu streiten verlernt haben. An die Stelle einer liberalen und demokratischen Kultur des Streits ist ein Sündenbock-Mechanismus getreten, der wie eh und je Einmütigkeit schafft, indem er den Abweichenden opfert. Heute gewinnt man diese Einmütigkeit im Hass auf den alten, weißen
Mann.

Um zu begreifen, was hier geschieht, bieten sich vor allem zwei Begriffe an: Politische Korrektheit und »Wokeness«. Der Politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern diejenigen, die eine abweichende Meinung haben, als unmoralisch zu verurteilen. Man kritisiert Andersdenkende nicht mehr – man hasst sie. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht – Stichwort: »Cancel Culture«. Wenn er prominent ist, stellt man ihn an den Medienpranger. Ich bringe das auf den von Odo Marquard eingeführten Begriff der Tribunalisierung. Und bei dieser Gerichtsverhandlung herrscht ein Absolutismus der Gegenwart. Alles, was der »woken« Kulturrevolution vorausging, gilt als rechtsextrem oder reaktionär.

„Eine Kultur der Überempfindlichkeit und Wehleidigkeit“

Der zweite Schlüsselbegriff, »Wokeness«, steht für eine Tyrannei der Minderheiten, die sich diskriminiert fühlen. Sie haben eine Kultur der Überempfindlichkeit und Wehleidigkeit entwickelt, in der es vor allem darum geht, einen prominenten Opferstatus zu erlangen. Das ist natürlich nicht argumentativ, sondern nur emotional möglich. Und so verdrängt heute ein Absolutismus des Gefühls die Rationalität der Aufklärung. Wo aber Gefühle statt Argumente die Debatten bestimmen, kommt es ganz unvermeidlich zur Verteufelung der Andersdenkenden.

Wie wurde der alte weiße Mann zum Sündenbock und was steckt hinter dieser kollektiven Schuldzuweisung? Norbert Bolz analysiert in seinem neuen Buch den Begriff und zeigt, dass er zur zentralen Symbolfigur in der aktuellen kulturellen Debatte geworden ist (Bezug hier)

Wie konnte es dazu kommen? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man sich klarmacht, dass Politische Korrektheit und »Wokeness« eigentümliche Spätformen der linken Ideologie sind. Seit es kein Proletariat mehr gibt, sind die Linken auf der Suche nach den Erniedrigten und Beleidigten. Und die »woke« Jugend hat sie nun gefunden, nämlich sich selbst. Dazu muss man nur lernen, ein Opfer zu sein und das Gekränktsein zu lieben. Der Opferstatus verleiht in unserer Gesellschaft einerseits die Vorteile einer positiven Diskriminierung. Man bekommt Aufmerksamkeit, wenn man seine Wunden vorzeigt. Andererseits dient der Opferstatus zur Identitätsstiftung: Ich bin ein Opfer, also bin ich. Dazu passt dann auch die Identifikation mit den Verlierern, mit den Erniedrigten und Beleidigten dieser Welt. Das ist ein Stück säkularisiertes Christentum: Opfer sein als Quelle der Stärke. In der »woken« Jugendbewegung präsentiert sich diese Arroganz der Schwachheit als ein aggressiver, selbstgerechter Moralismus. Entrüstung gilt dabei als Echtheitsbeweis.

Die Themen der »Wokeness« haben einen gemeinsamen Nenner: Man identifiziert sich mit den Verlierern der Geschichte und erklärt der Vergangenheit den Krieg. Das setzt eine konkrete Verkörperung des Bösen voraus: den alten, weißen Mann. Die Welt zerfällt in privilegierte Weiße und ihre Opfer. Die Gewohnheiten und Traditionen der Minderheiten und Migranten werden geschützt – das ist der Kern der Multikulti-Ideologie –, die Gewohnheiten und Traditionen der Mehrheit und des Westens dagegen werden bekämpft. Dem entspricht auf der Ebene der sittlichen Werte eine Normalisierung des Pathologischen und umgekehrt eine Pathologisierung des Normalen.

„Eine europäische Stärke, Selbstkritik, ist in Selbsthass umgeschlagen“

Wir haben es hier mit einer Perversion der Aufklärung zu tun. Eine europäische Stärke, Selbstkritik, ist in Selbsthass umgeschlagen. Als Weißer geboren zu sein, ist die Erbsünde, von der man sich nur durch Selbstgeißelung befreien kann. Dieser ethische Absolutismus der Selbstkritik steigert sich bis zum Bußmasochismus. Das ist der Effekt der letzten großen Erzählung, mit der die Linken die Öffentlichkeit faszinieren und das Bewusstsein der Bürger betäuben: die Erzählung von der weißen Schuld. Ihre Erfindung »unbewältigter Vergangenheiten« erzeugt im Westen ein universales Schuldbewusstsein.

Es gehört zur Dialektik der Aufklärung, dass die modische Rede von der Erbsünde des Weißseins den Eurozentrismus, den sie bekämpfen will, gerade vollendet, denn all das Antiwestliche geht vom Westen aus. Mit anderen Worten, der Westen ist deshalb so hilflos gegenüber seiner Infragestellung von außen, weil er gleichzeitig von innen in Frage gestellt wird. Die großen Schlagworte der »woken« Kulturrevolution lauten: Rassismus, Kolonialismus und Sexismus. Doch was wird eigentlich bekämpft?

Man kann diese Frage nur beantworten, wenn man sich klarmacht, wofür der alte, weiße Mann steht. »Alt« steht für Tradition und Erfahrung, für Reife und Bürgerlichkeit, für Normalität und Disziplin. Deshalb ist »alt« ein rotes Tuch für unsere, wie der Journalist Alexander Kissler sie nennt, »infantile Gesellschaft«, deren Charakter Johan Huizinga auf den Begriff des Puerilismus gebracht hat. »Weiß« steht für europäische Rationalität und technische Naturbeherrschung, für die Werte der Aufklärung und den Universalismus der Menschenrechte. Damit ist »weiß« ein rotes Tuch für die technikfeindlichen Grünen und die »woke« Identitätspolitik. »Männlich« steht für Selbstbehauptung und Mut, für die Aggressivität der schöpferischen Zerstörung, aber auch die notwendige Aggressivität der Begriffe und Vorgriffe auf die Zukunft, für Freiheitsdrang und Risikobereitschaft. Deshalb ist »männlich« ein rotes Tuch für die radikalen Feministinnen und die effeminierten Männer.

Indem sich die Moderne erfolgreich in einem radikalen Bruch mit der Tradition entwickelte, stiftete sie selbst die Tradition der Moderne. Die phantastischen Errungenschaften der Moderne, wissenschaftlicher Fortschritt, technische Weltbeherrschung und gesellschaftlicher Wohlstand, haben lange Zeit einen europäischen Fortschrittsoptimismus begründet. Und dieser Optimismus der Moderne hatte eben ein solides Fundament in den technischen Errungenschaften, der immer effizienteren Nutzung von Ressourcen, im Vertrauen in die eigene Kreativität und im siegreichen Umgang mit dem Unbekannten.

Diese Zeit europäischer Triumphe liegt nun hinter uns. Doch auch nachdem die weißen Herren vertrieben wurden, herrscht ihre Sprache: die Technik. Zwar hat jede Kultur ihre Eigenart. Aber die technische Rationalität lässt sich von ihrem Entstehungskontext ablösen und globalisieren. Deshalb gibtes heute eine Weltgesellschaft. Aber die Einheit der Welt ist eine rein technologische. Die abendländische Metaphysik beherrscht die ganze Welt – als Technik. Und auch diejenigen, die sich nicht mit der europäischen Rationalität identifizieren können oder wollen, müssen ihr doch in Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Konsum zustimmen.

„Unabhängigkeit, Selbstvertrauen, Risikobereitschaft und der Mut zur abweichenden Meinung sind liberale Tugenden“

Es ist richtig, dass sich die Aufklärung von der Tradition emanzipierte. Aber sie hat selbst eine mächtige Tradition entwickelt, nämlich die Tradition der Freiheit. Es ist vor allem die Freiheit des Westens, der die Einzigkeit Europas durch technischen Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum, freien Markt und Individualismus, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie definiert. Nur im Abendland gibt es diesen radikalen Begriff persönlicher Autonomie, der das Leben für einen bewussten Europäer überhaupt erst lebenswert macht. Und Bürgerlichkeit ist die Lebensform der Freiheit in der modernen Welt.

Unabhängigkeit, Selbstvertrauen, Risikobereitschaft und der Mut zur abweichenden Meinung sind liberale Tugenden. Vor allem die Tugend der Risikobereitschaft ist heute aber unbeliebt, weil sie männlich ist. Und tatsächlich ist ein recht verstandener Liberalismus unter modernen Lebensbedingungen die einzige Form, in der sich Männlichkeit bewähren kann. Praktische Vernunft kann sich nur bilden in Konfrontation mit dem Risiko, weil es zu Entscheidungen unter Bedingung von Unsicherheit zwingt.

Der Mut zum freien, riskanten Denken ist männlich. Die intellektuelle und moralische Revolution der Aufklärung, die den Selbstdenker fordert, hat Kant auf die Formel »Sapere aude! Wage zu denken!« gebracht. Der befreiende Schritt zum Selbstdenken ist immer ein Wagnis, und die größten Blockaden der Aufklärung sind Faulheit, Feigheit und Bequemlichkeit. Mehr denn je ist heute wieder dieser Mut der Aufklärung gefragt: Wage es, dich deines eigenen Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen!

Unabhängigkeit, das heißt Selbstvertrauen, Risikobereitschaft und das Festhalten an den eigenen Überzeugungen – auch gegen die Mehrheit. Hier geht es um den Mut, für die eigene Meinung einzustehen. Wo Aufklärung, Toleranz und Freiheit herrschen sollen, spielt Mut die Hauptrolle. Es geht um den Mut der Aufklärung gegen die Bequemlichkeit der Unmündigkeit. Unsere Gesellschaft braucht eine zweite Aufklärung, die uns wieder zurück in die Moderne führt. Fast alles, worauf wir stolz sein können, verdanken wir dem alten, weißen Mann. Indem wir ihn gegen seine »woken« Kritiker verteidigen, verteidigen wir die Errungenschaften der Moderne.

Norbert Bolz, 1953 in Ludwigshafen am Rhein geboren, ist Philosoph und Kommunikationswissenschaftler. Er lehrte bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2018 als Medienwissenschaftler an der TU Berlin. In vielen seiner Publikationen analysiert er die zunehmende Verunsicherung postmoderner Gesellschaften, so auch in seinem letzten Buch „Keine Macht der Moral!“ (2021). Sein neues Buch „Der alte weiße Mann“, dem dieser Text entnommen ist, ist gerade bei Langen Müller erschienen. Bolz ist seit 2012 auf Twitter aktiv und hat rund 50.000 Follower.

Bild oben: Imago

Eine Antwort zu “Der alte weiße Mann”

  1. Wokeness und cancel culture haben breiten Eingang und Einfluß auch in den Medien gefunden. augenfällig bei Talkshows und einer nicht mehr sachlichen und neutralen Gesprächsführung. das Überzeugen des Gegenüber mit Argumenten, Fakten, und wissenschaftlichen oder geschichtlichen Ergebnissen wird zu
    Gunsten einer rein emotionalen Parteinahme verlassen. Auch in den öffentlich-rechtlichen Medien wird zunehmend dieser
    Diskurs, der auf Fairness, gegenseitigem Respekt, Wahrheitsorientierung oder den Prinzipien wissenschaftlicher Erkenntnis/Plausibilität beruht zu Gunsten einer „hippen“ Parteinahme verlassen. Die Folgen sind Diskreditierung Andersdenkender, Luftschlossblasen und kommunikative Disruption. Deshalb ist diese Analyse im Buch von N.Bolz nicht nur aktuell sondern auch wichtig!

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