Der stille Brain-Drain blutet die Wirtschaft aus

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Deutschland ist 2024 um 196.100 Unternehmen ärmer geworden. Damit erreichen die Schließungszahlen den höchsten Wert seit 2011. Es entsteht ein stiller Brain-Drain mit stetem Verlust von Know-how und Fachkräften – und die wenigsten Unternehmen schließen wegen Insolvenz.

Sie gehen oft leise – aber sie gehen: keine Schlagzeilen, kein Insolvenzverfahren, kein großes Aufsehen. Und doch trifft ihr Verlust die Wirtschaft ins Herz. Deutschlandweit haben 196.100 Unternehmen 2024 für immer geschlossen. Das zeigen aktuelle Daten des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und von Creditreform. Es ist der höchste Stand seit mehr als einem Jahrzehnt. Mit jedem Betrieb verschwindet zugleich ein Stück entscheidendes Fachwissen und wirtschaftliche Substanz.

„Die Schließungszahlen sind in allen Wirtschaftsbereichen alarmierend. Seit 14 Jahren haben wir keine höheren Werte mehr gesehen. Vor allem die Industriebetriebe leiden unter den hohen Energiekosten in der Produktion, während der Wettbewerbsdruck durch ausländische Anbieter steigt“, erklärt Patrik-Ludwig Hantzsch , Leiter der Creditreform Wirtschaftsforschung.

Wirtschaftliche Grundlagen in Gefahr

Die, mittlerweile jahrelange, Stagnation der deutschen Wirtschaft ist kein Geheimnis. Weiter steigende Unternehmensschließungen muss die neue Bundesregierung dennoch mit besonders hoher Aufmerksamkeit verfolgen. Sie ziehen sich längst nicht mehr nur durch einzelne unter Druck stehende Sektoren wie den stationären Einzelhandel. Die aktuelle Schließungswelle betrifft vielmehr nahezu alle Branchen und höhlt die wirtschaftliche Basis aus.

Besonders hart trifft es energieintensive Industriezweige – etwa die Papier- und Chemieindustrie, Glas- und Keramikhersteller sowie die Metall- und Mineralölverarbeitung. Dass gerade diese Bereiche unter Druck geraten, überrascht kaum. Sie leiden besonders stark unter den seit 2022 deutlich gestiegenen Energiekosten. Mit jedem Betrieb, der hier schließt, geht nicht nur oft ein Stück Tradition verloren, sondern auch wertvolle Kompetenz und gut bezahlte Industriearbeitsplätze.

Know-how-Verlust in Schlüsselbereichen und Zukunftstechnologien

Natürlich gilt: Eine Volkswirtschaft ist ständig im ständigen Wandel; das Verschwinden von Unternehmen ist Teil dieses Prozesses. Doch im besten Fall geschieht der Wandel durch Fortschritt und Innovation – das Smartphone ersetzt die Kamera, das E-Auto den Verbrenner. Die aktuelle Schließungswelle hat jedoch eine andere Qualität. Ausgerechnet Zukunftstechnologien sind überdurchschnittlich stark betroffen.

Im Bereich der technologieintensiven Dienstleistungen, zu dem IT, Produktentwicklung, Umwelttechnik und Diagnostik gehören, stieg die Zahl der Schließungen um erschreckende 24 Prozent. Rund 13.800 Unternehmen dieser zukunftsweisenden Branchen mussten 2024 ihre Tore schließen. Das ist ein herber Schlag für Deutschlands Innovationskraft.

„Tatsächlich müsste dieser Sektor als Zukunftsbranche wachsen. Doch es herrscht ein gravierender Fachkräftemangel. Die daraus resultierenden Engpässe zwingen Unternehmen dazu, um knappe Ressourcen zu konkurrieren. Das führt dazu, dass nicht genug Aufträge angenommen werden können, um wirtschaftlich zu arbeiten“, erläutert Dr. Sandra Gottschalk, Senior Researcher beim ZEW Mannheim. Längst nicht mehr nur ein Wachstumshindernis, treibt der Mangel an Fachkräften diese Unternehmen aktiv in die Schließung und damit hochspezialisiertes Wissen aus dem Markt.

Größere Schließungen und demografischer Wandel beschleunigen Brain-Drain

Besonders alarmierend ist der starke Anstieg an Schließungen größerer, wirtschaftlich aktiver Unternehmen. Dieser Trend setzte sich im dritten Jahr in Folge fort. Gut 4.050 Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern wurden im Geschäftsjahr 2024 abgemeldet – fast doppelt so viele wie im Durchschnitt. Jedes davon steht für einen Verlust von Strukturen, Netzwerken und vor allem von kumuliertem Wissen.

„Das ist ein klares Alarmsignal an die Wirtschaftspolitik. Viele Unternehmen verlagern ihre Produktion ins Ausland, schließen Standorte oder investieren gar nicht mehr in Deutschland“, warnt Hantzsch. Die deutsche Wirtschaft verliert dadurch zunehmend an Substanz und Know-how.

Auch bei kleineren, überwiegend inhabergeführten Unternehmen steigt die Zahl der Schließungen, wenn auch zuletzt weniger schnell. Hier liegt die Ursache oft nicht in akuten wirtschaftlichen Schwierigkeiten, sondern im demografischen Wandel. Immer mehr geburtenstarke Jahrgänge erreichen das Rentenalter – und mit ihnen zahlreiche Unternehmer. Oft finden die Firmeneigentümer aber keine geeigneten Nachfolger. „Viele junge Menschen empfinden eine abhängige Beschäftigung als attraktiver und lukrativer als den Weg in die Selbstständigkeit“, so Gottschalk.

Gründungen und Fortbestand: es braucht Balance

Setzen sich diese Entwicklungen fort, ist die Basis der deutschen Wirtschaft bedroht. Sie braucht die Balance aus etablierten Unternehmen und jungen Startups in Zukunftsbranchen sowie Selbstständigen. Jung und Alt ergänzen sich. Gründer probieren Ideen aus, bei Erfolg wachsen ihre Unternehmen schnell und ihre Ansätze verbreiten sich im Markt. Die bestehenden Unternehmen mit eingespielten Geschäftsmodellen sichern Arbeitsplätze, bilden Fachkräfte aus und geben wichtiges Wissen an folgende Generationen weiter.

Dieses Ökosystem gesund zu erhalten, ist eine zentrale Aufgabe der Politik. Dazu muss sie an beiden Seiten ansetzen: Sie muss einerseits vermeidbare Geschäftsaufgaben verhindern und Rahmenbedingungen schaffen, die den Fortbestand etablierter Unternehmen sichern. Andererseits muss sie Gründungen massiv erleichtern und aktiv fördern, um neue Impulse und Zukunftsperspektiven zu schaffen.

Geschieht nichts davon, riskiert Deutschland, nach und nach seine Substanz, seine Innovationskraft und damit seine Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren – oft leise, aber mit verheerenden Konsequenzen.

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Bild von Daniel Reche auf Pixabay

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