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„Die Polen haben die Deutschen gerettet“

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Im Interview spricht Altkanzler Helmut Schmidt über den Einigungsprozess. Geboren 1918, war Helmut Schmidt von 1974 bis 1982 Bundeskanzler und ist seither Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“. Von Hause aus Ökonom, warnte Schmidt bereits kurz nach dem Fall der Mauer davor, die Schwierigkeiten kleinzureden, die sich bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten mit ihren unterschiedlichen Wirtschaftssystemen ergeben könnten. In Aufsätzen und Reden hat er seither immer wieder die Probleme beim Zusammenwachsen analysiert und Handlungsvorschläge vorgelegt. In einem Interview für die Studie „So geht Deutschland“ des Berlin Instituts spricht der Altkanzler über seine Einschätzung des Wiedervereinigungsprozesses.

Hätten Sie sich zu Ihrer Zeit als Kanzler bis 1982 vorstellen können, dass das Ende der deutschen Teilung so schnell kommen würde?

Zu meiner Zeit als Kanzler hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass die DDR noch im selben Jahrzehnt zusammenbrechen würde. Wohl aber habe ich deutlich gesehen, dass die DDR weit hinter dem Mond zurückgeblieben war. Dass sie am laufenden Band Geld brauchte und sich dieses unter anderem dadurch beschaffte, dass sie für jeden Häftling hunderttausende D-Mark verlangte. Alexander Schalck-Golodkowski, der Mann, der dies vermittelte, war der wichtigste Ökonom der DDR.

Von wann an hielten Sie das Ende der Teilung für möglich?

Im Frühjahr 1989 hat in Polen General Wojciech Jaruzelski den Forderungen der oppositionellen Gewerkschaft Solidarnosc nachgegeben und den „Runden Tisch“ einberufen. Da saßen zum ersten Mal alle gesellschaftlichen Kräfte einschließlich Solidarnosc zusammen, um über ein Mehrparteiensystem, freie Wahlen und andere Reformen zu sprechen. Von diesem Zeitpunkt an erschien es mir wahrscheinlich, dass in Deutschland eine Vereinigung zustande kommen könnte. Dass es so schnell gehen würde, war aber nicht abzusehen.

Hat der Zusammenbruch des Systems im damaligen Ostblock die Möglichkeit der Vereinigung eröffnet?

Den Systemzusammenbruch hat nicht die Perestroika ausgelöst, die Michail Gorbatschow ausrief, nachdem er 1985 Generalsekretär der KPdSU geworden war und damit faktisch die Geschicke der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks lenkte. Denn in der damaligen Tschechoslowakei und auch in der DDR änderte die Perestroika nichts. Es war Jaruzelski, der in Bezug auf die Sowjetherrschaft ein gespaltenes Bewusstsein besaß und der einen Seite dieses gespaltenen Bewusstseins nachgegeben hat, indem er den Runden Tisch erfand. Die Polen haben die Deutschen gerettet. Die SPD hatte schon 1959 einen „Deutschlandplan“ ausgearbeitet, um auf eine mögliche Wiedervereinigung vorbereitet zu sein.

Hatten die Regierungen der alten Bundesrepublik jemals derartige Pläne in der Schublade?

Den Deutschlandplan haben 1959 einige sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete auf Anregung von Herbert Wehner angefertigt. Er enthielt unter anderem den Vorschlag, eine atomwaffenfreie und entmilitarisierte Zone in Mitteleuropa einzurichten und dann in einer gesamtdeutschen Konferenz die Schritte auf dem Weg zu einer Vereinigung auszuhandeln. Diese Idee hatte sich bald erledigt. Der ökonomische Teil des Plans stammte von mir. Er sah vor, die wirtschaftliche und soziale Wiedervereinigung in drei Stufen über fünf Jahre hinweg zu vollziehen. Denn es war schon damals klar, dass es riskant wäre, die Plan- und Zwangswirtschaft der DDR auf einen Schlag in das marktwirtschaftliche System zu überführen. Der Deutschlandplan von 1959 war natürlich 1989 völlig überholt. Aber die Analyse war immer noch richtig, dass die wirtschaftliche Vereinigung stufenweise und im Übergang staatlich gestützt hätte vollzogen werden müssen. Es hat später weitere Studien über das Thema gegeben, die zum gleichen Ergebnis kamen. Ich erinnere mich zum Beispiel an Arbeiten des Wirtschaftswissenschaftlers Bruno Gleitze. Kurt Biedenkopf hat Ende 1989 Ähnliches öffentlich dargelegt. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen – so wurde das frühere Ministerium für gesamtdeutsche Fragen 1969 im Zuge der neuen Ostpolitik genannt – stand seit 1987 unter der Leitung von Dorothee Wilms von der CDU. Unter ihrer Obhut sind mit Sicherheit ernstzunehmende Papiere entstanden, die mögliche Pläne für eine Vereinigung enthielten und auch auf mögliche Probleme dabei hinwiesen. Aber sie traute sich wohl nicht, diese ihrem Chef Helmut Kohl vorzulegen.

„Kohl hatte da bereits sowohl Moskau als auch Washington von der Notwendigkeit zu handeln überzeugt“ 

Nach dem Fall der Mauer und den ersten freien Wahlen in der DDR war die Vereinigung zunächst eine von mehreren möglichen Optionen. Welches war in Ihrer Wahrnehmung der entscheidende Wendepunkt?

Ich habe die Rede mit dem Zehn-Punkte-Plan, die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl Ende November im Bundestag gehalten hat, für die entscheidende Weichenstellung gehalten. Das sehe ich noch heute so. Kohl hatte da bereits sowohl Moskau als auch Washington von der Notwendigkeit zu handeln überzeugt. Auf dieser Grundlage konnte es dann zu den 2+4-Verhandlungen kommen, bei denen die ehemaligen Siegermächte letztlich der Wiedervereinigung zustimmten.

War es notwendig, dass Kohl so vorpreschte?

Er war von Hause aus optimistisch. Auch deshalb, weil er die ökonomischen Folgen der Vereinigung, so wie er sie anstrebte, wohl nicht wirklich einschätzen konnte.

Braucht man diesen Optimismus in der Politik?

Manchmal.

War Ihnen 1989 klar, in welch desolatem Zustand sich die DDR-Wirtschaft befand?

Die DDR-Industrie war immerhin noch besser als die russische, wenn man einmal von der Verteidigungsindustrie absieht – darin waren die Russen absolute Spitze. Aber die DDR-Industrie war weitestgehend überholt. Was sie produzierte, war entweder zu teuer oder taugte nichts. Sie war nicht gewohnt, den Zusammenhang zwischen Kosten und Preisen zu beachten. Sie war nicht gewohnt, ihre Produkte zu vermarkten. Jedenfalls war sie in keiner Weise konkurrenzfähig mit der westeuropäischen Industrie.

„Es war klar, dass die DDR-Industrie meistbietend verkauft werden würde“

War für Sie absehbar, was mit dieser Wirtschaft geschehen würde?

Es war klar, dass die DDR-Industrie meistbietend verkauft werden würde. Weil aber die Menschen im Osten kein Geld hatten, kauften fast nur Westler die Unternehmen auf und haben sich damit die Konkurrenz vom Leibe gehalten.

Hat man diese Wirtschaftslage den Menschen in der ehemaligen DDR rechtzeitig und ausreichend klar gemacht?

Nach dem Ende meiner Kanzlerschaft war ich fast jedes Jahr unterwegs in der DDR und habe da Vorträge gehalten, auf Einladung von Manfred Stolpe, damals stellvertretender Vorsitzender des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Ich weiß nicht mehr genau, was ich da jeweils erzählt habe. Sicher nichts, was ich nicht selbst glaubte. Aber auch nicht alles, was ich wusste, dass es nämlich den Menschen schlecht ging, aber noch schlechter gehen könnte, wenn die Vereinigung käme. Anfang 1990 habe ich allerdings auf dem Marktplatz von Rostock gesagt: Ihr müsst euch vorbereiten, ihr braucht Arbeitsämter, ihr werdet massenhafte Arbeitslosigkeit haben, und ihr kriegt ein Problem mit der Finanzierung eurer Sozialausgaben. Das war eine einigermaßen richtige Diagnose.

Was hätten Sie anders gemacht? Wäre ein symbiotischeres Zusammenwachsen von Plan- und Marktwirtschaft denkbar gewesen?

Die Planwirtschaft hat niemals richtig funktioniert. Die Übernahme des Marktsystems war zwangsläufig. Aber die Übernahme des Währungssystems 1:1 war ein katastrophaler Fehler. Der 1:1 Umtausch von DDR-Mark in D-Mark galt sofort für alle Preise und für alle Löhne. Damit waren die Unternehmen schlagartig dem vollen Wettbewerb ausgesetzt. Das musste zu einer Massenarbeitslosigkeit führen. Ich habe damals gedacht, das Richtigste wäre, es schrittweise zu machen und vielleicht nach zehn Jahren bei einem 1:1-Verhältnis anzukommen.

„Heute haben wir in Mecklenburg-Vorpommern bessere Straßen als zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen“

Dank der Wirtschaftskraft des Westens ist die Einheit inzwischen doch immerhin sehr weit gediehen…

… nicht nur dank der Wirtschaftskraft, auch dank der Fähigkeit zur Verwaltung. Ich weiß nicht, wie viele hundert Wessis, Verwaltungsspezialisten und Juristen – darunter auch viele zweitklassige – nach der Einheit das Finanzamt in Leipzig übernahmen oder sich um den Haushalt in Rostock kümmerten. Warum? Weil die Vereinigung von heute auf morgen einige zehntausende Paragraphen in Kraft gesetzt hat und niemand damit umzugehen wusste. Die Wirtschaftskraft des Westens hat unter anderem dafür gesorgt, dass wir heute in Mecklenburg-Vorpommern bessere Straßen haben als zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen. Die Perspektive muss aber sein, dass die Marktwirtschaft auch die Uckermark erreicht.

Rein theoretisch hätten Sie 1989 noch Kanzler sein können…

Das ist eine ganz wilde Theorie.

Wären Sie gern Einheitskanzler gewesen? Vor großen Aufgaben haben Sie sich noch nie gescheut.

Richtig. Aber ich bin 1918 geboren, ich war zu dem Zeitpunkt, als die Mauer fiel, schon 70 Jahre alt. Das ist für einen Politiker ein sehr hohes Alter. Die heutigen Politiker, von Frau Merkel bis Sigmar Gabriel, sind alle zehn Jahre jünger. Ganz abgesehen davon, dass ich die Befreiung von der Verantwortung genossen habe. Aber wenn ich zehn Jahre jünger gewesen wäre, hätte ich das als lohnende Aufgabe für mich gesehen.

©Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Aus der Studie: So geht Einheit. Wie das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist

Helmuth Schmidt
Jahrgang 1918, war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler und ist seither Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“.

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