
Eine tickende Zeitbombe
Wir bekommen eine Regierung der Kompromisse in einer Zeit, in der wichtige Entscheidungen unausweichlich zu treffen sind. Vor allem zwei große Herausforderungen scheinen ignoriert zu werden.
Von Professor Dr. h.c. mult Roland Koch
Mit der finanziellen Freiheit für einen schnellen Kurswechsel in der europäischen und deutschen Verteidigungspolitik ist der für Deutschlands Zukunft in Freiheit wichtigste Punkt so geregelt, dass es nun am Geschick der Akteure liegt, daraus etwas zu machen. Die Kollateralschulden – also Verschuldung für Maßnahmen, die auch anders hätten finanziert werden können – sind eine zusätzliche Last, die der nächsten Generation nur durch höhere Wachstumsraten erträglich wird.
Zurzeit sieht es so aus, dass zwei weitere Hypotheken auch in der neuen Regierung ungebremst Deutschland treffen werden, obwohl sie heute noch beherrschbar wären. Es handelt sich einerseits um die sogenannte „Haltelinie von 48 Prozent“ beim Rentenniveau bis 2040 und andererseits um die Festlegung, die international für das Jahr 2050 vereinbarten Klimaziele schon 2045 erreichen zu wollen. Die Summe der Lasten dieser beiden falschen Entscheidungen übersteigen die Gesamtkosten der neuen Schulden.
Die 48-Prozent-Haltelinie: Eine tickende Zeitbombe für die Rentenfinanzierung
Die Debatte um die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland dreht sich seit Jahren um die sogenannte Haltelinie von 48 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns. Diese politisch festgelegte Untergrenze des Rentenniveaus soll Rentnerinnen und Rentner vor einem dramatischen Einkommensverlust bewahren. Doch diese Stabilität hat einen hohen Preis: Die steigenden Kosten belasten die junge Generation erheblich und werfen grundsätzliche Fragen zur Finanzierung auf. Laut aktuellen Berechnungen der Deutschen Rentenversicherung wird der Beitragssatz von derzeit 18,6 Prozent bis 2030 auf etwa 22 Prozent steigen und könnte bis 2040 sogar 24 bis 26 Prozent erreichen. Gleichzeitig erhöht sich der Bundeszuschuss aus Steuermitteln bereits jetzt kontinuierlich: Im Jahr 2023 lag er bei rund 112 Milliarden Euro und könnte laut Schätzungen bis 2040 auf 180 Milliarden Euro anwachsen. Diese Zahlen verdeutlichen die enorme Belastung sowohl für Beitragszahler als auch für den Bundeshaushalt.
Den Grund für diese Situation können wir nicht ändern. Schon seit Jahrzehnten wurden zu wenige Kinder geboren, unser Land wird älter. Während heute etwa 36 Millionen Erwerbstätige in die Rentenkasse einzahlen, wird diese Zahl bis 2040 voraussichtlich auf 30 Millionen sinken. Gleichzeitig wird die Zahl der Rentnerinnen und Rentner von derzeit rund 21 Millionen auf 24 bis 25 Millionen steigen. Angesichts dieser Fakten ist es falsch, ohne weitreichende Veränderungen an der, wie zu befürchten ist, Illusion der Stabilität des jetzigen Systems mit Haltelinie festzuhalten. Völlig irrational ist es, das System weiter zu belasten, wie es mit der erweiterten Mütterrente geschehen soll.
Eine Regierung, die nicht nur den Kopf in den Sand stecken will, muss unverzüglich zusätzliche Schritte ergreifen. Eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 68 oder gar 70 Jahre wird von Ökonomen seit Jahren vorgeschlagen. Jede Erhöhung um ein Jahr reduziert die Rentenausgaben um bis zu 4 Prozent. Die freiwillige Verlängerung, verbunden mit steuerlichen Anreizen, ist ein positiver Schritt, aber es ist fraglich, ob dieser ausreicht. Eine staatlich geförderte oder verpflichtende private Zusatzvorsorge könnte langfristig zur Entlastung der gesetzlichen Rentenversicherung beitragen. Das in der letzten Regierung geplante “Generationenkapital” wäre ein sinnvoller Anfang. Zudem wird keine Regierung in den nächsten 15 Jahren daran vorbeikommen, eine weniger dynamische Rentenanpassung zu etablieren, um die Kostensteigerung zu bremsen. Eine Koppelung an die Inflation statt an die Nettolöhne könnte hierbei ein praktikabler Kompromiss sein.
Langfristig kann die Rentenpolitik nicht umhinkommen, einen realistischeren Kurs einzuschlagen. Die Frage ist nicht, ob die Haltelinie reformiert wird, sondern wann und in welcher Form dies geschehen wird.
Das Vorziehen der nationalen Klimaneutralität auf 2045 ist teuer
Für Investitionen aus den neuen Klimaschulden wurde das Ziel der Klimaneutralität auf das Jahr 2045 festgesetzt. Das kann man hinnehmen, denn irgendeinen Grund muss es ja geben, neben den marktwirtschaftlichen Instrumenten zusätzliches Geld zu investieren. Aber bedeutet das wirklich, dass wir von den internationalen Vereinbarungen vollständig abweichen wollen? Laut Berechnungen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) bedeutet das Vorziehen des Ziels auf 2045 eine Zusatzbelastung von 600 bis 750 Milliarden Euro. Der Grund für die hohen zusätzlichen Kosten liegt in der Notwendigkeit, Übergangstechnologien wie grünen Wasserstoff oder CO₂-Speicherung früher als geplant zu etablieren. Dies alles geschieht aber nicht für einen guten Zweck. Selbst wenn Deutschland früher als geplant aus fossilen Energieträgern aussteigt, werden die freigewordenen CO₂-Zertifikate einfach von anderen EU-Staaten genutzt. Die Gesamtbilanz bleibt unverändert, während Deutschland erhebliche Kosten schultern muss. Der europäische CO₂-Emissionshandel (EU-ETS) legt eine fixe Obergrenze für den CO₂-Ausstoß in Europa fest und es spricht absolut nichts dafür, dass Europa dies ändert.
Die ungleiche Lastenverteilung hat massive wirtschaftliche Folgen. Deutsche Unternehmen müssen früher auf teurere, klimaneutrale Energieträger umstellen, während Konkurrenten in Frankreich, Polen oder Spanien weiterhin auf günstigere fossile Alternativen zugreifen können. Dies verteuert die Produktion in Deutschland erheblich und gefährdet Industriearbeitsplätze. Der Industriestrompreis in Deutschland lag 2023 mit durchschnittlich 16 Cent pro kWh fast doppelt so hoch wie in Frankreich. Diese Differenz wird sich durch die vorzeitige Klimaneutralität noch weiter verschärfen.
Der europäische CO₂-Handel stellt sicher, dass Emissionen auf EU-Ebene sinken – unabhängig davon, ob Deutschland früher klimaneutral wird oder nicht. Die vorgezogene Zielsetzung auf 2045 führt lediglich dazu, dass deutsche Unternehmen unverhältnismäßig hohe Kosten tragen. Wettbewerber im EU-Ausland genießen währenddessen wirtschaftliche Vorteile.
Eine Rückkehr zum ursprünglichen Ziel 2050 wäre nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern auch klimapolitisch vertretbar. Angesichts der politischen Kämpfe der letzten Tage und der mühsam erkämpften Zustimmung der Grünen zu den Verfassungsänderungen wird es den neuen Koalitionspartnern schwerfallen, das Richtige sofort zu tun. Aber Weichenstellungen in der Kraftwerksplanung, im Netzausbau, der Verkehrspolitik und der Umstellung von Gas- und Wärmenetzen setzten die Frage permanent neu auf die Tagesordnung. Hier könnten Parteien, die Wohlstand und Klimaschutz vereinen wollen, handeln. Die Verfassung verbietet das keineswegs, nicht in Artikel 20a, nicht im neuen Artikel 143h und auch nicht durch das ambitionierte Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Schaden abwenden!
Die Pflicht der Politik „Schaden vom Deutschen Volk abzuwenden“, wird an den beschriebenen Hypotheken deutlich. Die jüngeren Generationen haben einen Anspruch darauf, dass hier gehandelt wird. Auch wenn die Wahlergebnisse das den handelnden Regierungen fast unmöglich zu machen scheinen, muss es immer wieder einen neuen Anlauf geben.
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Professor Dr. h.c. mult. Roland Koch ist seit November 2020 Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung. Koch war bis von 1999 bis 2010 Hessischer Ministerpräsident. Altbundeskanzler Ludwig Erhard gründete 1967 die Ludwig-Erhard-Stiftung und gab ihr die Aufgabe, für freiheitliche Grundsätze in Wirtschaft und Politik einzutreten und die Soziale Marktwirtschaft wachzuhalten und zu stärken. Die Stiftung ist von Parteien und Verbänden unabhängig und als gemeinnützig anerkannt. Sie tritt politischem Opportunismus und Konformismus mit einem klaren Leitbild entgegen: Freiheit und Verantwortung als Fundament einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für den mündigen Bürger. Infos
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