Eine Zerstörung anderer Art

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Mit dem Brexit ist mehr zerstört worden, als nur die EU-Mitgliedschaft, findet Unternehmerin Julia Kalmund, die in England aufgewachsen ist.

Nicht nur Menschen eilt ein Ruf voraus. Ein Land und sein Volk werden auch beurteilt oder verurteilt. Im „best case“ herrscht oft ein Mythos um manche Charakterzüge, vieles wird verherrlicht, bewundert, beneidet, weil man gerade diese Eigenschaften im eigenen Volk vermisst und so gerne hätte. Es gibt Länder die überproportional viele kluge Köpfe, viele Persönlichkeiten, viele Menschen hervorbringen, die unser aller Kultur nachhaltig prägen, und die Geschichte, nicht nur dieses Landes, sondern der Welt, verändert und beeinflusst haben.

Ich möchte behaupten, dass Großbritannien diesem Bild entsprach. Trotz mancher blinder Flecken in der fernen und unmittelbaren Vergangenheit, die man den Briten mit Recht vorwirft, sind sie Vorbild und Vorreiter auf unzähligen Gebieten seit vielen Jahrhunderten gewesen.

„splendid isolation“ schon lange aufgegeben

England war nicht meine Wahlheimat. Meine Eltern haben das Land als Zufluchtsort gewählt, als sie in 1957 mit mir aus Ungarn geflüchtet sind. England war aber das Land meines Ankommens. Es wurde zu meiner geistigen Heimat. Eine Heimat, die mir ermöglichte, mich zu entfalten, die Freiheit einzuatmen. Wir waren in Sicherheit, frei von der Willkür diktatorischer Regime jeglicher Couleur. Angstfrei. Was die britische Staatsangehörigkeit in der damaligen Zeit für uns bedeutet hat, kann man im 21. Jahrhundert vielleicht gar nicht nachvollziehen.

Es hat sich in Großbritannien selbstverständlich vieles verändert. Das ist gut so. Die Insel hat ihre „splendid isolation“ schon lange aufgegeben und ist, vor allen Dingen in und um London von einer beneidenswerten kulturellen Vielfalt. Starre gesellschaftliche Strukturen haben sich gelockert und man muss nicht mehr unbedingt mit „stiff upper lip“ seine sonstigen Fähigkeiten legitimieren.

Wie soll man aber die Geschehnisse der letzten Wochen nachvollziehen können?
Wo ist die legendäre Fairness, Pragmatismus statt Polemik, geblieben?
Wie haben Politiker die Menschen durch Angst und irrationale Emotionen so manipulieren können?
Wer hat entschieden, fast demagogisch, nicht oder falsch aufzuklären?
Warum haben so viele mit den richtigen Argumenten, den richtigen Fakten, geschlafen?
Auf welches Wunder haben sie gehofft?
Warum haben die Alten nicht verstanden, dass sie mit dem Erbe der jungen Generation spielen?
Warum sind führende Köpfe nicht in der Lage an größere Zusammenhänge, längere Zeiträume zu denken, als bloß bis zum Ende ihrer Amtszeit?
Warum war es kein „fair play“, sondern ein Spiel unter der Gürtellinie?

Ins Abseits geschossen

Die Briten sind Teamplayer, angeblich. Beim Hockey in der Schule wurde uns immer gesagt; es geht nicht darum zu gewinnen, sondern es geht darum, dass man dabei ist. Großbritannien war ein wichtiges Mitglied der EU. Es hätte Einfluss nehmen können, mitgestalten können, Missstände durch konstruktive Vorschläge und Maßnahmen korrigieren können.

Haben sie nicht verstanden, dass die Union nicht nur aus, zum Teil lästigen, bürokratischen Regeln besteht? Haben sie nicht gespürt, dass neben allen Irritationen ein anderer Geist herrschen muss? Hatten sie nicht wenigstens gelegentlich eine Vision von einem friedlichen Miteinander jenseits von geographischen und wirtschaftlichen Interessen?

Sie haben sich ins Abseits geschossen, und sich ein Bein gestellt. Dabei haben sie nicht nur sich selbst geschadet. Wir sind alle zu sehr miteinander verwoben, ob innerhalb oder außerhalb der EU.

Vielleicht war diese Wahl aber für uns alle ein „wake-up call“. Vielleicht eine Möglichkeit innezuhalten und nachzudenken. Ein Einschnitt als Möglichkeit zur Korrektur. Die Möglichkeit uns auf unsere Stärken und Gemeinsamkeiten zu besinnen, und uns der Verantwortung bewusst zu werden, denjenigen gegenüber, die nach uns kommen.

Julia Kalmund, Unternehmerin aus München, ist in England aufgewachsen. Sie betreibt unter anderem die Seite www.street-philosophy.de.

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