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Strategische Souveränität: Make Europe great!
Egal, wer im November 2024 in den USA der nächste Präsident wird – die Qual der Wahl heißt eventuell wieder Biden oder Trump –, Europa wird damit leben müssen. Dazu kommen die Neuwahlen zum Europäischen Parlament. Beide Wahlgänge werden für Europa von enormer Bedeutung sein und möglicherweise die gesamte politische Landschaft neugestalten.
Von Stephan Werhahn und Ulrich Horstmann
Die beiden größten Demokratien des Westens gehen 2024 an die Urnen: Die EU wird im Frühjahr über die Erneuerung ihres 705 Sitze umfassenden Parlaments abstimmen, bevor Amerika im November einen neuen Präsidenten und einen neuen Kongress wählt.
Doch ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Trumpismus in neuem Gewand. Die nativistischen Neigungen eines Präsidenten, der wenig Rücksicht auf diplomatische Gepflogenheiten nimmt, haben beim ersten Mal schon viel Kummer bereitet. Das war, bevor der Krieg auf dem Kontinent ausbrach. Jetzt sorgt die Aussicht auf ein Wiederaufleben – entweder mit Donald Trump selbst oder mit einer Variante wie Ron DeSantis, dem Gouverneur von Florida, der sein ernsthaftester Herausforderer für die Nominierung der Republikaner ist – für Nervosität. Jeder weiß, dass es Ärger geben könnte. Niemand kann sich darauf einigen, was man dagegen tun soll. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht sitzt Europa fest und wartet ab, was passiert.
Die führenden Politiker und Wähler Europas waren im November 2020 erleichtert, als Joe Biden die Demokraten wieder ins Oval Office führte. Im Gegensatz zu Präsident Trump hat er die EU nicht als “Feind” bezeichnet und den Sinn der Nato nicht untätig in Frage gestellt. Er vertritt beruhigend langweilige Ansichten über den Klimawandel (d. h., dass er stattfindet). Wie es amerikanische Präsidenten, die nicht Trump heißen, zu tun pflegen, hört er auf die außenpolitische Elite Washingtons, die europäische Diplomaten seit Jahrzehnten umschmeichelt haben. Der Außenminister von Präsident Biden, Antony Blinken, spricht ein tadelloses Französisch, was in Trumpschen Kreisen als Zeichen moralischer Abweichung gilt. Der amtierende Oberbefehlshaber Biden versäumt es selten, seine irische Herkunft zu erwähnen. Dennoch sind die Beziehungen zwischen Europa und Amerika derzeit nicht immer reibungslos: Man denke nur an den Ärger über Bidens grüne Steuererleichterungen, von denen Europa befürchtet, dass sie mit protektionistischen Auflagen verbunden sind oder an die aktuellen Sicherheitsleaks.
Europas Abhängigkeit von Amerika hat sich vertieft
Die offensichtlichste Sorge für den Fall, dass Amerika sich entschließen sollte, wieder nach Trumpscher Größe zu streben, ist die Ukraine. In einer idealen Welt wären die russischen Truppen besiegt, bevor die nächste Amtszeit des Präsidenten im Januar 2025 beginnt. Doch schon die Aussicht auf einen unberechenbaren Führer im Weißen Haus könnte Wladimir Putin ermutigen, seine verpfuschte Invasion bis dahin durchzuziehen. Denn es sind vor allem amerikanische Waffen und Geheimdienstinformationen, die die Ukraine im Krieg gehalten haben, einschließlich der europäischen Hilfen. Der Versuch, zu erraten, was ein wiedergewählter Präsident Trump tun würde, ist ein Täuschungsmanöver; er hat gesagt, er könne den Krieg “innerhalb eines Tages” beenden, indem er einen Deal mit Herrn Putin schließt (Details unklar). Herr DeSantis bezeichnete den Krieg kürzlich als bloßen “Territorialstreit” zwischen Russland und der Ukraine und sagte, es sei nicht in Amerikas Interesse, sich darin zu verstricken (obwohl er sich nach einem Sturm der Kritik revidierte). So oder so wird Europa keine andere Wahl haben, als die Entscheidung Washingtons zu akzeptieren.
Wenn überhaupt, hat sich Europas Abhängigkeit von Amerika unter Joe Biden vertieft. Vor einem Jahr stellte Constanze Stelzenmüller von Brookings, einem Think-Tank in Washington, fest, dass Deutschland “seine Sicherheit an die Vereinigten Staaten, seinen Energiebedarf an Russland und sein exportorientiertes Wachstum an China ausgelagert” habe. Im heutigen Europa, so Jeremy Shapiro vom European Council on Foreign Relations, einem weiteren Think-Tank, sind alle drei Aspekte zunehmend in amerikanischer Hand:
- Die Nato bleibt der Hüter der europäischen Sicherheit, nicht zuletzt, seit die Waffenarsenale von Estland bis Portugal geleert wurden, um die Ukraine zu unterstützen.
- Ein großer Teil des Gases, das früher durch russische Pipelines nach Europa kam, wird jetzt von Schiffen mit amerikanischem Erdgas aus Fracking-Anlagen geliefert.
- Grüne Subventionen haben Amerika, nicht China, zum Eldorado für europäische Unternehmen gemacht.
„Vor allem die Mitteleuropäer vertrauen ihre Sicherheit niemandem außer Amerika an, schon gar nicht Frankreich oder Deutschland“
Was macht man, wenn der Garant für die eigene Sicherheit von zweifelhafter Zuverlässigkeit ist? Frankreich, das den Amerikanern bei der Wahrung seiner Interessen nie ganz vertraut hat, verfügt über jahrzehntelange Erfahrung in diesem Spiel. Präsident Emmanuel Macron appelliert an alle, die es hören wollen, dass die EU ihre eigene “strategische Autonomie” entwickeln muss (wieder: Details unklar). Während der Trump-Jahre sprach er davon, dass Europa am Rande eines Abgrunds stehe und die Nato sich dem Hirntod nähere. Für diejenigen mit dieser aktualisierten gaullistischen Denkweise haben sich die Dinge unter Präsident Biden kaum verbessert. Man denke nur an den überstürzten Abzug aus Afghanistan, der Europa im August 2021 überrumpelte, oder an die abrupte Art und Weise, mit der Australien einen Monat später aus einem großen französischen U-Boot-Vertrag ausgestiegen ist.
Doch die französischen Lösungen für das Problem eines unsicheren Amerikas stoßen weitgehend auf taube Ohren. Vor allem die Mitteleuropäer vertrauen ihre Sicherheit niemandem außer Amerika an, schon gar nicht Frankreich oder Deutschland. Die Polen und andere vermuten, dass Macron seine eigene Agenda verfolgt, vielleicht um die Auftragsbücher der französischen Rüstungsunternehmen zu füllen. Im Moment ist Europa in Bezug auf die Ukraine geeint, weil die verschiedenen Staats- und Regierungschefs im Großen und Ganzen auf derselben Seite stehen wie Herr Biden. Sollte Amerika seinen Kurs ändern, dürften Teile Europas – aber nicht alle – diesem Beispiel folgen.
Biden hat jetzt seine Zeit
Selbst ein geteiltes Europa könnte noch ein paar diplomatische Trümpfe in der Hand haben, unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt. Eine republikanische Regierung wird China gegenüber genauso hartnäckig sein wie Präsident Biden, wenn nicht sogar noch härter. Aber damit Amerika seinen Rivalen isolieren kann, braucht es die Hilfe Europas, das seine Abhängigkeit von China nur verringern, nicht aber erdrosseln will. Bislang begnügt sich die EU damit, weiterhin mit China Geschäfte zu machen: Macron hat Xi Jinping in Peking besucht, zusammen mit der Chefin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen. Europas Rolle als Ausgleichsmacht könnte Biden einen gewissen Einfluss auf das amerikanische Denken verschaffen.
Aber wahrscheinlich nicht viel. Das eigentliche Problem wird im eigenen Land liegen. Seit Barack Obama vor über einem Jahrzehnt eine “Hinwendung zu Asien” angekündigt hat, weiß Europa, dass es mehr für seine eigene Sicherheit ausgeben muss. Daher die richtige, aber hinsichtlich Taiwan diplomatisch riskante Aussage von Macron in China, man dürfe sich nicht zu sehr abhängig machen vor den USA – “strategische Souveränität” nennt er das seit langem. Interessanterweise waren alle deutschen Kanzler seit Gerhard Schröder, Angela Merkel und bis 2022 Olaf Scholz und die gesamte interessierte Industrie lieber auch noch abhängig von Moskaus strategischen, fossilen Rohstofflieferungen.
Mit Verspätung haben Deutschland, Frankreich und andere versprochen, die diversen Abhängigkeiten zu reduzieren. Doch niemand glaubt, dass dies bis zum Ende (geschweige denn bis zum Beginn) der nächsten Amtszeit des amerikanischen Präsidenten einen Unterschied machen wird.
Europa wird also wieder einmal den Launen einer Supermacht ausgeliefert sein, für die europäische Interessen zweitrangig sind. Unser europäischer Kontinent wird in das Jahr 2024 gehen und auf das Beste hoffen: Es fehlen ihm die Mittel, um sich auf etwas anderes vorzubereiten. Das muss sich dringend ändern.
Vielleicht sollte man sich die strategische Souveränität doch noch einmal genauer als Gesamtkonzept überlegen.
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Stephan Werhahn ist Gründer und Direktor des Instituts Europa der Marktwirtschaften (IEM) und Enkel Konrad Adenauers. Dr. Ulrich Horstmann ist Vorstand im Institut Europa der Marktwirtschaften, Buchautor und Publizist. Aktuelle Bücher des Autorenkollektivs „Ludwig Erhard jetzt!“ und „SOS Europa“. Unterstützt wird die Arbeit des IEM von Isabel Winter-Blümel.
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