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Javier Mileis Wegbereiter: Deutschland kann so arm wie Argentinien werden
Agustín Etchebarne leitet Argentiniens wichtigsten libertären Thinktank. Für den weltweit beachteten radikalen Kurswechsel, den das heruntergewirtschaftete Land unter seinen neuen Präsidenten Javier Milei durchführt, haben libertäre Wissenschaftler wie er den Boden bereitet. Im Interview spricht er über die Herausforderungen seines Landes – und Deutschlands.
Mit Genehmigung der BERLINER ZEITUNG veröffentlichen wir dieses Interview, das Moritz Eichhorn geführt hat und von Rainer Zitelmann vermittelt wurde.
So ein Experiment hat es noch nicht gegeben. Zum ersten Mal in der Geschichte steht ein libertärer Politiker an der Spitze eines Staates und baut denselben ab. Er halbiert die Zahl der Ministerien, entlässt mehr als 50.000 Beamte, streicht Leistungen für Millionen Bürger. Javier Milei verändert den Charakter Argentiniens in Rekordzeit. Nach einem Jahr kann er enorme Erfolge vorweisen, die Inflation ist massiv gesunken, zum ersten Mal seit 123 Jahren verbuchte Argentinien 2024 kein Haushaltsdefizit. Doch die Bevölkerung zahlt einen hohen Preis. Die Mittelschicht, vielfach von staatlichen Zuwendungen abhängig, erodiert. 53 Prozent der Menschen leben mittlerweile unter der Armutsgrenze. Und trotzdem halten die Bürger dem Präsidenten die Treue.
Auf dieser Seite des Atlantiks waren viele vom radikalen Kurwechsel Argentiniens zuerst überrascht, mittlerweile stößt er auf breite Ablehnung. Immerhin war das Land schon neunmal zahlungsunfähig und konnte im Jahr 2020 Schulden von 65 Milliarden Dollar bei internationalen Kreditgebern nicht bedienen. Argentinien galt als notorisch defizitäres Land mit Klientelwirtschaft. Und doch kam Javier Milei mit seiner anarcho-kapitalistischen Agenda keineswegs aus dem Nichts. Seit mehr als 20 Jahren haben libertäre Denker und Wissenschaftler seiner Revolution den Boden bereitet. Ihr vielleicht prominentester Vertreter ist Agustín Etchebarne, Direktor des Thinktanks Libertad y Progreso (Freiheit und Fortschritt). Im Video-Interview aus seinem Büro in Buenos Aires erklärt er, warum er den Libertarismus für zutiefst menschlich hält, wie die Muster wirtschaftlichen Auf- und Abstiegs funktionieren und was er im Bundestagswahlkampf fordern würde.
Nachdem der Libertarismus jahrzehntelang ein randständiges Dasein gefristet hat, legte er jüngst ein beeindruckendes Comeback hin, insbesondere mit der Wahl von Javier Milei in Argentinien. Welche Art von Freiheit ist der Libertarismus für Sie?
Professor Etchebarne: Freiheit bedeutet für mich zu akzeptieren, dass jeder seinen Körper, seinen Geist und folglich die Früchte seiner Arbeit besitzt. Das ist Privateigentum. Und jedes Mal, wenn es in einer Gesellschaft Institutionen gibt, die diese Idee unterstützen – das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum –, sehen wir, wie der Mensch aufblüht. Wer das nicht akzeptiert, braucht den Staat, um eine Version sozialer Gerechtigkeit umzusetzen, oder wenn man Reichtum umverteilen will, damit einige Menschen andere subventionieren, die weniger talentiert sind. Dafür muss man Gewalt anwenden. Man benutzt also den Staat als Mittel, um von einigen zu nehmen und anderen zu geben. Aber das ist ein Zustand der Gewalt. Sobald wir den Rahmen einer freien Zusammenarbeit unter Menschen verlassen, finden wir eine weniger erfolgreiche Gesellschaft.
Es wird viel diskutiert über militärische Kämpfe für die Freiheit, wie in der Ukraine, über Meinungsfreiheit in Zeiten von Fake News, über Bewegungsfreiheit, wenn es um Migration geht. Aber Debatten über die wirtschaftliche Freiheit sind selten. Warum?
Ich halte Freiheit für unteilbar. Zum Beispiel haben wir jetzt ein Problem mit dem Wechselkurs in Argentinien. Er ist besser als im vergangenen Jahr, aber wir haben immer noch ein Problem. Wer aber keinen Zugang zu Devisen hat, kann das Land nicht verlassen. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Freiheit und der Freiheit zu reisen. Und das gilt für alles. Wenn man hohe Zölle hat, dann hat man keinen Zugang zu vielen Gütern, oder die Armen haben keinen Zugang zu Telefonen, Computern und damit zu Verbindungen zu anderen. Wirtschaftliche Freiheit ist untrennbar mit anderen Freiheiten verbunden. Das Schlimmste ist, wenn der Staat viel Macht hat, in die Wirtschaft einzugreifen, dann hat man überhaupt keine Freiheit. Denn wenn der Staat die Macht hat, einen Geschäftsmann reich oder arm zu machen, dann ist die Macht, die er über seinen Geist hat, enorm.
War das bisher in Argentinien der Fall?
Das sieht man in Argentinien jeden Tag. Denn wir haben viel Klientelpolitik und Vetternwirtschaft. Zwar besitzen manche Unternehmer zehn Milliarden Dollar, aber ihre Meinung können sie nicht frei äußern, weil sie vom Staat abhängig sind. Hätten sie der ehemaligen Regierungspartei ihre Unterstützung entzogen, wären sie erledigt gewesen. Als Christina Kirchner Präsidentin war, hatte sie die meisten dieser Leute gegen sich, aber niemand konnte etwas sagen.
Argentiniens ehemalige Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner wurde bereits in zwei Instanzen wegen Korruption verurteilt, hat aber erneut Berufung eingelegt. Setzen diese Leute sich jetzt für Präsident Milei ein?
Nun, nicht jeder ist für Präsident Milei, denn die Vetternwirtschaft ist jetzt in Gefahr. Wenn man Grenzen für den Handel öffnet und Zölle senkt, gibt es einige, die durch die neue Freiheit benachteiligt werden. Nach acht Jahrzehnten Protektionismus müssen sich die Unternehmen verändern. In einer geschlossenen Wirtschaft gibt es auch nach hundert Jahren dieselben Firmen in der Hand derselben Familien. Wenn man die Tore öffnet, werden einige von ihnen verschwinden, aber wir werden junge Menschen erleben, die Unternehmen gründen, deren Produkte wir uns nicht einmal vorstellen können. Deshalb glauben Libertäre wie Milei nicht daran, dass man auswählen kann, welcher Sektor der beste Sektor der Wirtschaft sein wird.
„Genauso wie es Zeit braucht, bis ein armes Land reich wird, braucht es auch Zeit, bis ein reiches Land arm wird, wie es in Argentinien der Fall war und wie es jetzt in Deutschland der Fall ist“
Deutschland ist staatsorientierter, insbesondere in dem Bestreben, unsere Wirtschaft CO₂- neutral zu gestalten. Wie geht eine libertäre Regierung mit Fragen des Klimawandels um?
Während des Kalten Krieges war die wirtschaftliche und politische Überlegenheit liberaler Demokratien gegenüber kommunistischen Regimen offensichtlich, wie die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland oder zwischen Süd- und Nordkorea zeigten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte die westliche Linke einen bedeutenden Wandel. Sie gab den traditionellen Wirtschaftsdiskurs weitgehend auf und konzentrierte sich auf kulturelle und soziale Fragen, ein Phänomen, das manche als „Kulturmarxismus“ bezeichnen. Dieser Ansatz umfasste Themen wie Ökologie, Klimawandel und die Verteidigung von Minderheitenrechten einschließlich der LGBTQ+ Gemeinschaft und der Rechte der Frauen. Anstatt diese Themen jedoch aus einer klassisch liberalen Perspektive zu fördern, nahm diese Bewegung eine von der marxistischen Dialektik beeinflusste Sichtweise an, die den Konflikt und den Klassen- oder Geschlechterkampf in den Vordergrund stellte. Mit dieser neuen Ausrichtung gelang es der Linken, in Europa wieder an Einfluss zu gewinnen, indem sie sich an den Kontext nach dem Kalten Krieg anpasste und sich auf die aufkommenden sozialen und kulturellen Dynamiken konzentrierte.
Es scheint ironisch, dass die Lehren der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, für die Präsident Milei und Sie eintreten und die auch in Elon Musks Vision für Amerika eine zentrale Rolle spielen, im politischen Diskurs im deutschsprachigen Raum fast vollständig fehlen. Was glauben Sie, woran liegt das?
Nun, ich denke, das passiert in jeder Kultur, vielleicht in jeder Zivilisation, vielleicht sogar in jeder Familie. Man sagt, die erste Generation sind harte Burschen, Soldaten, sie erobern und verteidigen Gebiete. Die zweite Generation ist ähnlich zäh, sie sind die Konstrukteure, die Ingenieure, errichten die Gebäude, die Brücken, die Festungen, die Straßen. Die dritte Generation ist anspruchsvoller. Sie sind die Architekten, diejenigen, die die Städte verschönern. Sehr wichtig ist die vierte Generation, das ist der Höhepunkt der Zivilisation, Dichter und Musiker wie Goethe und Beethoven. Die fünfte Generation ist das Problem. Sie glauben, dass sie zwar alle Rechte, aber keine Pflichten haben. Sie läuten die Zerstörung ein. Argentinien war früher sehr reich, als Europa sehr arm war. Jetzt ist es genau umgekehrt.
Eine der überregionalen Wochenzeitungen Deutschlands, Die Zeit, veröffentlichte kürzlich einen Essay, in dem Milei als Rechtsextremist bezeichnet wurde, der Argentinien in den Faschismus führe. Führt der Libertarismus zum Faschismus?
Diese Fehlinterpretation ist auf eine Kombination aus ideologischen Missverständnissen und bewusstem Framing zurückzuführen: Viele Kritiker können nicht zwischen Autoritarismus, Faschismus und Libertarismus unterscheiden. Der Faschismus weitet die staatliche Kontrolle auf jeden Aspekt des Lebens aus, während der Libertarismus für eine deutliche Reduzierung dieser Kontrolle eintritt. Die einzige Gemeinsamkeit ist die Ablehnung des Status quo. Diejenigen, die linken oder etatistischen Ideologien verhaftet sind, sehen in libertärer Politik oft eine direkte Bedrohung für ihre Vision von einer Regierung als Instrument für Umverteilungsgerechtigkeit. Die Bezeichnung von Libertären als „Extremisten“ oder „Faschisten“ wird zu einer rhetorischen Strategie, um sie zu delegitimieren. Dabei liegt das Wesen des Libertarismus in der Demontage von Zwangssystemen der Macht – sei es faschistischer, sozialistischer oder bürokratischer Etatismus. Solche Anschuldigungen dienen eher der Verwirrung als der Klärung der ideologischen Landschaft.
Präsident Milei ändert den Kurs Argentiniens außerordentlich schnell. Kritiker im In- und Ausland behaupten, er ignoriere die sozialen Kosten. Sind die Reformen herzlos?
Er ändert den Kurs sehr schnell. Und das ist sehr hart. Die Menschen haben zu kämpfen. Im Alltag geht es den Menschen heute nicht besser als vor einem Jahr. Es wird einige Jahre dauern, bis die Wirtschaft wieder wächst. Und dann wird es bestimmte Menschen geben, die viele Jahre lang leiden werden, denn wie gesagt, einige Unternehmen werden verschwinden, sie werden sich neu erfinden müssen. In zehn Jahren wird Argentinien wahrscheinlich wieder aufblühen. Und genauso wie es Zeit braucht, bis ein armes Land reich wird, braucht es auch Zeit, bis ein reiches Land arm wird, wie es in Argentinien der Fall war und wie es jetzt in Deutschland der Fall ist. Die Menschen merken das nicht sofort, denn die Welt um sie herum wächst weiter. Die florierende Weltwirtschaft täuscht Staaten über den eigenen Niedergang.
„Ich denke, Milei ist das Ergebnis von vielleicht 20 Jahren, in denen Libertäre unseres Thinktanks in TV- Talkshows aufgetreten sind. Das ist in den USA und in Europa immer noch ungewöhnlich“
Ist der vier- bis fünfjährige Wahlzyklus von Demokratien also ein Hindernis für langfristig positive Entscheidungen und anhaltenden Wohlstand?
Die Linke spricht immer von Demokratie. Aber in der argentinischen Verfassung ist das Wichtigste die Republik. Unsere Verfassung etabliert die Nation als ein föderales republikanisches Repräsentativsystem, das die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit über die bloße Wahl von Amtsträgern stellt. Dieser von Montesquieus Philosophie inspirierte Rahmen versucht, durch ein System der gegenseitigen Kontrolle und des Ausgleichs zwischen Exekutive, Legislative und Judikative eine Machtkonzentration zu verhindern und so langfristige Stabilität und Wohlstand zu fördern. Der Erfolg dieses Systems kann jedoch bei nachfolgenden Generationen zu Selbstgefälligkeit führen und sie anfällig für populistische Ideologien machen, die unmittelbare Vorteile auf Kosten der Grundprinzipien bieten. Daher ist es unerlässlich, eine solide staatsbürgerliche Bildung aufrechtzuerhalten, die aktive Beteiligung der Bürger zu fördern und die institutionelle Integrität zu sichern, um die Werte zu wahren, die nachhaltigen Wohlstand gewährleisten.
Jenseits von Mileis anarcho-kapitalistischen Wirtschaftsmaßnahmen zeichnet ihn vor allem seine exzentrische Persönlichkeit mitsamt Kettensägen-Auftritten aus. Wie wichtig ist der kulturelle Aspekt, um Menschen zu überzeugen?
Das ist eine sehr gute Frage, die sich nur schwer beantworten lässt. Ich denke, Milei ist das Ergebnis von vielleicht 20 Jahren, in denen Libertäre unseres Thinktanks in TV- Talkshows aufgetreten sind. Das ist in den USA und in Europa immer noch ungewöhnlich. Ich habe an der London School of Economics Wirtschaftsbücher gesehen, in denen die Österreichische Schule völlig ausgelassen wurde – obwohl Friedrich Hayek und Milton Friedman dort lehrten.
Woran liegt das?
Die Ideen der ungehinderten freien Marktwirtschaft und die Gefahren des Staates wurden zu Beginn des Jahrhunderts in Wien diskutiert. Aber sie kamen erst viel später zum Tragen. Zu bestimmten Zeitpunkten haben bestimmte Ideen eine Chance, Realität zu werden, das sogenannte Overton-Fenster. Und vor 20 Jahren haben wir in unserer Institution Libertad y Progreso beschlossen, in Argentinien völlig außerhalb des Overton-Fensters über Libertarismus zu sprechen. Und nach 20 Jahren haben wir es, glaube ich, geschafft. Und natürlich hatte Milei, als er vor etwa fünf Jahren die Bühne betrat, ein gutes Timing. Wir waren Vorreiter, aber er kam genau zum richtigen Zeitpunkt.
Würden Sie sagen, dass Mileis Sieg und seine Reformen ohne die Arbeit der Stiftung Libertad y Progreso unmöglich gewesen wären?
Milei hat es geschafft, einen historischen Moment in Argentinien zu nutzen, indem er sein Charisma und seine revolutionären Vorschläge mit einer tiefen Verbindung zur Unzufriedenheit der Öffentlichkeit kombinierte. In diesem Zusammenhang spielte Libertad y Progreso eine wichtige, wenn auch nicht exklusive Rolle bei der Verbreitung der Ideen der wirtschaftlichen Freiheit und der Kritik an der staatlichen Politik und trug so zu einem breiteren kulturellen Wandel bei. Die Stiftung arbeitete jahrelang daran, Forschung zu betreiben, Debatten zu fördern und politische Maßnahmen vorzuschlagen, die dazu beitrugen, die intellektuelle Grundlage für die heute diskutierten Reformen zu schaffen. Es wäre jedoch übertrieben zu behaupten, dass sein Sieg und seine Reformen ohne diese Arbeit unmöglich gewesen wären. Vielmehr haben wir unseren Teil zu einer viel größeren gemeinsamen Anstrengung beigetragen.
Lässt sich Mileis Methode konstanter Konfrontation über die nächsten drei Jahre der Legislatur durchhalten?
Ich glaube, dass wir uns in Argentinien in der Anfangsphase des Wirtschaftsliberalismus befinden. Wir sind Teenager des Libertarismus. Danach wird es hoffentlich eine Phase geben, in der es ruhiger, rationaler und dialogischer zugeht. Ein konstruktiver Austausch, bei dem beide Seiten die Ansichten des anderen akzeptieren müssen. Aber das ist nicht der Zustand, in dem wir uns in Argentinien heute befinden. Wir schreien uns immer noch gegenseitig an.
Sie scheinen vom Erfolg von Mileis Projekt überzeugt zu sein. Sehen Sie dennoch Risiken, dass er scheitern könnte?
Ja, ich denke, es wird schwierig, weil es eine Weile dauern wird. Es ist erstaunlich, was die Regierung bereits getan hat, denn das erste Halbjahr war sehr hart, aber die Unterstützung für Milei ist nach wie vor groß. Das ist vielversprechend, weil es den Menschen, wie gesagt, nicht gut geht. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft, aber sie haben hohe Erwartungen. Die zu erfüllen, ist umso schwieriger, je höher sie sind. Und ich denke, es gibt viele Profiteure des alten Systems, die Milei nur allzu gerne scheitern sehen würden. Im Oktober finden Parlamentswahlen statt. Ich denke, Mileis Partei wird gewinnen, aber wenn sie verlieren würde, wäre das eine Katastrophe.
Ist die politische Opposition kein Problem für ihn?
Die Opposition hat Cristina Kirchner erneut zur Parteivorsitzenden gewählt. Sie ist eine korrupte Parteiführerin. Sie wurde zweimal wegen Bestechung vor Gericht verurteilt. Sie hat Berufung eingelegt und versucht, vor den Obersten Gerichtshof zu ziehen, was einige Jahre dauern könnte. Aber die Menschen wissen, dass sie korrupt ist. Die Opposition ist derzeit keine wirkliche Bedrohung. Aber 2026 müssen wir sehen, dass die Reformen schnell fortgesetzt werden, denn die Arbeitslosigkeit könnte wieder steigen, was ebenfalls eine Katastrophe wäre.
Wann, glauben Sie, wird die Bevölkerung Ergebnisse sehen wollen, um Mileis Kurs weiterhin mitzutragen?
Sie sehen bereits Ergebnisse. Denn das erste Ergebnis, das sie sehen, ist, dass die Inflationsrate sinkt. Der Erzeugerpreisindex lag beispielsweise im letzten Monat bei nur 1,2 Prozent. Im Dezember letzten Jahres lag er bei 54 Prozent. Die Wirtschaft brummt und bremst die Inflation. Die Inflation lag letztes Jahr beispielsweise bei 211 Prozent. Dieses Jahr wird sie bei etwa 115 Prozent liegen. Und wenn Milei die Parlamentswahl im Oktober gewinnt, wird sie weiter sinken. Das wird sich unmittelbar auf das Leben großer Teile der Bevölkerung auswirken.
Aber wann wird die Not, immerhin sind seit Beginn der Reformen Zehntausende in die Armut abgerutscht, ein Ende haben?
Wir haben und werden weiterhin ein soziales Sicherheitsnetz haben. Menschen unterhalb der Armutsgrenze erhalten staatliche Unterstützung.
Aber das eigentliche Problem ist doch die sich auflösende Mittelschicht, oder?
Ja. Sie werden sehen, dass die Armutsquote allmählich sinkt. Und in diesem Jahr wird sie wahrscheinlich noch weiter sinken. Dennoch werden die Menschen die Belastung spüren. Und irgendwann werden einige Unternehmen bankrottgehen. Wenn das passiert, müssen wir enorme Investitionen in neue Unternehmen, beispielsweise im Bergbau und in der Landwirtschaft, beschließen. Ein Risiko ist schließlich das Wetter. In Argentinien ist das Wetter sehr wichtig. Wenn La Niña kommt, könnte sich das negativ auf die Ernten und das Vieh auswirken, und wir brauchen in diesem Jahr starke Exporte.
Nehmen wir an, bei der Wahl im Oktober läuft alles nach Plan, La Niña bleibt aus, die Arbeitslosigkeit sinkt weiter und es wird genug in Landwirtschaft und Bergbau investiert. Wann wird sich das Land dann wirklich erholen?
Wir sehen bereits eine Erholung. Wir sehen, dass die Wirtschaft mit etwa acht Prozent jährlich wächst. Dieses Jahr werden wir wahrscheinlich um etwa fünf Prozent wachsen. Aber es gibt zwei Messgrößen. Eine ist das, was wir in den Zahlen sehen, die andere, was Menschen fühlen. Und das wird in den verschiedenen Branchen sehr unterschiedlich sein. In einigen wird es sehr gut laufen. Andere werden sich schwertun, zum Beispiel der Textilsektor. Und wir werden die Größe der Regierung weiter verringern. Ehemalige Beamte werden sich nach Jobs umsehen müssen, und sie sind es nicht gewohnt, im Privatsektor zu arbeiten. Und dann gibt es noch etwas, das sehr, sehr schwierig ist. Selbst wenn wir ein Wachstum von fünf oder sechs Prozent pro Jahr verzeichnen, wird immer noch ein Viertel der Erwerbsbevölkerung arbeitslos bleiben.
Warum das?
Wir haben ein katastrophales Bildungssystem. Unser Schulen zerstören den Verstand der Schüler. Zunächst indem sie ihnen von Anfang an Geld zuschanzen. Man zerstört einen Menschen, wenn man ihm 20 Jahre lang staatliche Almosen gibt. Wir haben etwa 76.000 Menschen, die Geldtransfers erhalten haben, weil sie als behindert galten. Aber die überwiegende Mehrheit hatte gar keine Beeinträchtigungen. Das System war korrupt. Die ärztlichen Atteste wurden gefälscht. Wenn man das mit einer Person macht, zerstört man diese Person. Man macht sie tatsächlich zu einem Behinderten.
„Es gibt zahllose Regierungsprogramme, um Menschen Geld zu geben. Etwa acht Millionen Argentinier erhielten aus dem einen oder anderen Grund Zuwendungen der Regierung. Aber die Veruntreuung dieser Gelder ist nicht so schlimm wie die Zerstörung der Menschen und ihrer Familien“
76.000 Menschen scheint keine so große Zahl zu sein in einem Land mit einer Bevölkerung von etwa 47 Millionen Menschen.
Das Problem beschränkt sich nicht auf die Empfänger dieser illegitimen Almosen. Es gibt zahllose Regierungsprogramme, um Menschen Geld zu geben. Etwa acht Millionen Argentinier erhielten aus dem einen oder anderen Grund Zuwendungen der Regierung. Aber die Veruntreuung dieser Gelder ist nicht so schlimm wie die Zerstörung der Menschen und ihrer Familien.
Wie meinen Sie das?
Weil man ihr Selbstwertgefühl zerstört. Die Menschen, von denen viele arbeitsfähig sind, suchen nach einer sinnvollen Arbeit, erhalten aber stattdessen Geld fürs Nichtstun. In ihnen wächst die Verachtung. Die Regierung gibt ihnen Geld, aber das nehmen sie ihr übel. Wenn man Menschen Geld gibt, damit sie nicht arbeiten, zerstört man sie.
Diese Einschätzung ist für deutsche Ohren ungewöhnlich. Staatliche Unterstützung für Menschen, damit sie in Würde leben können, selbst wenn sie nicht arbeiten, wird als minimaler humaner Standard angesehen.
Man nimmt den Menschen den Sinn. Sie bekommen die Botschaft: Du wirst nicht gebraucht. Und ihre Familie sieht sie an und sagt: Er bringt den Scheck nach Hause, aber nicht, weil er arbeitet oder klug oder fleißig ist, sondern nur, weil er existiert.
In Argentinien und den USA wird der Kampf gegen den Staatsapparat bereits oder bald zum Regierungshandeln. Milei und Trump verstehen sich sehr gut. Aber wie passen Zölle zu einem freien Markt?
Gar nicht, ich finde das wirklich schrecklich. Zölle sind selbst für den beabsichtigten Zweck schrecklich. Wenn man Zölle erhöht, wird das Risiko eines Krieges höher, nicht niedriger. Die Amerikaner halten das Ganze nicht für ein wirtschaftliches, sondern ein geopolitisches Problem. Die USA fürchten China, weil sie glauben, sie müssten die einzige Supermacht der Welt bleiben. Das wird nicht klappen. Wir haben hier ein enormes Risiko, und ich denke, dass Washington in dieser Angelegenheit völlig falsch liegt. Sie erhöhen die Zölle für Mexiko und Kanada, was ein riesiger Fehler ist. Das tut man seinen Verbündeten nicht an. Die USA und Kanada zusammen haben nur 400 Millionen Einwohner. Ein Freihandelsabkommen zwischen Nord- und Südamerika würde eine Milliarde Menschen umfassen. Dann erhält man erheblichen Einfluss gegenüber China.
Hätte der Freihandel den Ukrainekrieg verhindern können?
Europa hat Jahrhunderte des Krieges durchgemacht, bevor es sich dem Freihandel zuwandte, der, wie Montesquieu bemerkte, „die Sitten mildern“ würde. Frédéric Bastiat schloss sich dieser Meinung an und prophezeite, dass, wenn keine Waren die Grenzen überschreiten, es die Soldaten tun. Visionäre wie Jean Monnet, Konrad Adenauer und Charles de Gaulle erweiterten den europäischen Handel und erreichten im letzten halben Jahrhundert einen beispiellosen Frieden. Wäre Russland in diesen gemeinsamen Markt mit uneingeschränktem Handel integriert worden, hätte der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland vielleicht abgewendet werden können.
Welche Auswirkungen hat der Weg Argentiniens auf seine Nachbarn in Südamerika?
Ich hoffe auf einen Dominoeffekt, aber bisher gibt es noch keinen. Als Chile 30 Jahre lang beeindruckende Arbeit leistete, haben wir ständig dafür plädiert, seinem Beispiel zu folgen, aber unsere Politiker haben sich nicht darum gekümmert. Sie kümmerten sich nur um Wählerstimmen. Aber auf individueller Ebene scheinen die Reformen inspirierend zu sein. Ich war in den USA auf einer Konferenz mit 500 Denkfabriken aus aller Welt. Wenn man Argentinien erwähnt, kennen die Leute jetzt außer Maradona und Messi auch Milei.
In Deutschland ist die Wahrnehmung eine völlig andere. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat behauptet, Milei ruiniere das Land und trete die Menschen mit Füßen. In den Medien wird Mileis Schocktherapie weitgehend verdammt. Viele scheinen zu hoffen, dass Milei scheitert.
Denn sie denken, wenn er scheitert, widerlegt das die Annahme, dass marktwirtschaftliche Modelle nachhaltig und staatlicher Regulation überlegen sind. Eine große Angst der kollektiven Linken ist der Erfolg von Trump und Milei. Und das sagen sie auch ganz offen. Wenn Mileis Reformen funktionieren, werden wir unsere Verfassung ändern.
Warum und wie?
Unsere Verfassung ist derzeit fürchterlich. Die Verfassungen des 19. Jahrhunderts in den USA und Argentinien waren Verfassungen für freie Menschen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Tatsächlich haben wir es mit einem neuen Konstitutionalismus zu tun, sogar in Deutschland und Europa, wo die Regierung viel mehr Macht über das Volk hat als früher.
Sie meinen Verfassungszusätze?
Genau. Die argentinische Verfassung wurde verändert. Zum Beispiel haben wir einen Artikel 14 mit allen bürgerlichen Freiheiten. Aber es wurde ein Artikel 14 b hinzugefügt, der das genaue Gegenteil besagt. Artikel 14 setzt fest, dass man frei arbeiten, lehren, lernen und sich am freien Unternehmertum beteiligen kann – also alle Freiheiten, die wir schätzen. Aber in Artikel 14 b wurden sogenannte soziale Rechte hinzugefügt. Zum Beispiel wurde hier das Recht auf ein obligatorisches Rentensystem verankert. Aber dieses „Recht“ führt dazu, dass die Regierung jeden Monat 30 Prozent meines Einkommens einbehält.
Sind alle Steuern für Sie Raub?
Nun, ich denke, ab einem bestimmten Punkt ist es in Argentinien tatsächlich Raub. Denn man nimmt uns fast das gesamte Geld. Aber nicht nur durch Steuern, auch über das Rentensystem. Das ist der schlimmste Diebstahl von allen. Ich habe eine Rechnung auf Basis des argentinischen Mindestlohns aufgestellt. Sie nehmen jeden Monat elf Prozent des Gehalts und weitere 16 Prozent von Ihrem Arbeitgeber. Und sie berechnen Ihnen für Abgaben an die Gewerkschaften weitere zwei Prozent. Sie behalten also 29 Prozent des Einkommens. Stellen Sie sich vor, wir könnten diese 30 Prozent sparen. Ich habe eine Berechnung angestellt, mit nur fünf Prozent Zinssatz, was in etwa dem realen Zinssatz der letzten 600 Jahre in Europa entspricht. Wenn Sie 14 Jahre lang sparen, könnten Sie in Argentinien fünf Häuser kaufen. Wenn Ihr Ehepartner arbeitet, kommen noch einmal fünf Häuser hinzu. Sie nehmen Ihrer Familie zehn Häuser weg.
Sie teilen die Vision von Präsident Milei und unterstützen seine Politik. Gibt es für Sie nichts an seinem Vorgehen zu kritisieren?
Ich übe offen Kritik an bestimmten Entscheidungen. Er hat zwei Richter für den Obersten Gerichtshof nominiert. Einer ist sehr gut, Manuel García-Mansilla. Der andere, Ariel Lijo, ist unserer Meinung nach sehr schlecht. Das ist relevant, weil der Oberste Gerichtshof nur fünf Mitglieder hat. Der Senat hat seine Kandidaten nicht bestätigt. Das ist natürlich Teil einer Verhandlung, weil der Senat peronistisch ist. Aber ich muss sagen, das ist schrecklich für den Obersten Gerichtshof. Und es gibt Probleme mit seiner Persönlichkeit, die wahrscheinlich notwendig ist, um Veränderungen dieser Größenordnung in Argentinien zu bewirken. Aber es gibt einen Nebeneffekt. Nämlich es ist schwierig, Teams in der Regierung zu bilden. Das ist eine One-Man-Show. Es ist kein Ein-Mann-Betrieb, aber Teambuilding ist schwierig. Und schließlich hat Milei es versäumt, hart gegen die Gewerkschaften vorzugehen. Wir alle zahlen immer noch diese Prozentsätze an die Gewerkschaften. Das gilt auch für Arbeitnehmer, bei denen es gar keine Gewerkschaften gibt, wie bei NGOs oder Fußballmannschaften.
Im beginnenden Bundestagswahlkampf werden wirtschaftliche Themen im Mittelpunkt stehen. Deutschland hat in diesem Jahr praktisch kein Wachstum verzeichnet. Unser Wirtschaftsmodell, Industriegüter mit billiger Energie aus Russland zu produzieren und sie nach China zu exportieren, ist überholt. Kann Deutschland von Argentiniens libertärem Weg etwas lernen?
Wenn ich ein Politiker in Deutschland wäre, würde ich die Kernkraftwerke wieder in Betrieb nehmen. Denn das ist meiner Meinung nach eine Botschaft an alle: Wir sind nicht mehr woke. Und diese Botschaft ist wichtig. Außerdem wird man ohne Deregulierung nicht wettbewerbsfähig. Eines gilt für Argentinien, Deutschland und alle Länder, die mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben: Es muss erst noch schlimmer werden, bevor es besser werden kann. Es gibt keine Belohnung, wenn man den Preis dafür nicht zahlt. Und es gibt nur wenige Menschen, die bereit sind, diesen Preis zu zahlen. Man muss schonungslos offen über die Risiken und Kosten verschiedener politischer Maßnahmen sprechen, und man braucht wahrscheinlich eine Figur wie Milei – jemanden, der bereit ist zu kämpfen.
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klasse Beitrag, so deutlich habe ich eine Beschreibung einer Staatsform lange nicht mehr gesehen, vor allem wird auch nicht der Vergleich gescheut, der den Niedergang der Deutschen Wirtschaft belegt, aber Deutschland ist nur die Speerspitze, andere Industriestaaten mit ähnlich gelagerten Regierungen und Gewaltenteilungen werden folgen. Ich sage es mal, jede Dynastie in der Weltgeschichte ist zuerst aufgeblüht, dann hat sie gelebt und danach ist sie untergegangen, so wird das auch mit den Industriestaaten von heute passieren und die, wo diese heutigen Industriestaaten noch über die Schwellenländer lachen, werden die reichen werden und wir werden dann die ärmeren Staaten sein .. Also bleibt der Menschheit im Ende nichts anderes übrig, als endlich einzusehen, wir haben ein Planet und sollten einig darauf sein, dann kann man auch ins Weltall expandieren oder wir ersticken weiterhin im Klein-Klein und vernichten diesen Planeten.
Ein sehr gutes und tiefgehendes Interview.
Herzlichen Dank.