Oettinger: „Viele haben den Knall noch nicht gehört“
Der alljährliche „Wirtschaftsgipfel“ hat sich zu so etwas wie einem „Davos für Deutschland“ entwickelt. Ähnlich wie beim Weltwirtschaftsforum ringen in Frankfurt Entscheider aus Wirtschaft und Politik um einen Kompass in unsicheren Zeitläuften. Kanzleramtsminister Braun verteidigt die Klimapolitik. Die bekommt er aber von EU-Kommissar Oettinger oder Wirtschaftswissenschaftler Rürup ziemlich auseinandergepflückt.
„Deutschland steckt noch im spätsommerlichen Traum“, findet der für Haushalt und Personal zuständige EU-Kommissar, Günther Oettinger, drastische Worte. Viele in Politik und Wirtschaft hätten „den Knall noch nicht gehört“. Die Rezession sei da, die vergangenen und aktuellen politischen Entscheidungen untauglich, Wachstum zu erzeugen. „Bei allem Respekt vor Klimaschutz: Arbeitsplätze und bezahlbare Produkte in der Industrie sind vergleichbar wichtig.“ Die Koalitionsvereinbarung der jetzigen Regierung sei noch in einer „guten alten Zeit“ gemacht worden. Es sei jetzt an der Zeit, den Menschen zu sagen, „was Sache ist“; Zeit für eine neue Agendapolitik.
Braun: Klimapaket soll auch wirtschafts- und innovationsfördernde Impulse erzeugen
Der fulminante Startbeitrag Oettingers beim diesjährigen Wirtschaftsgipfel Deutschland (DDW-Leser waren eingeladen) zeigte bereits, was Sache ist im Herbst 2019: Die deutsche Wirtschaft schlittert unverkennbar in die Rezession, weltwirtschaftliche und technologische Herausforderungen stellen dem Standort existentielle Fragen – doch politisch steht „Öko“ klar im Vordergrund.
Leserevent
Die Veranstaltung steht im Kontext des Lesernetzwerks „Connectors Club“ von DDW, das Treffen auf Top-Führungsebene anbietet. Interesse an der Teilnahme an diesen und anderen Veranstaltungen im Connectors Club richten Sie gerne an corporate@die-deutsche-wirtschaft.de.
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Das machte auch Bundeskanzleramtschef Professor Dr. Helge Braun auf der Veranstaltung im Hessischen Hof klar. Er stimmte zwar den wenig optimistischen gesamtwirtschaftlichen Analysen seines Vorredners, dem ehemaligen Chef der Wirtschaftsweisen und heutigen Präsidenten des Handelsblatt Research Instituts, Professor Dr. Bert Rürup, prinzipiell zu, den einen „Herbst der überfälligen Entscheidungen“ anmahnte. Die „Rettung des Weltklimas“ sei aber vorrangig, so Braun. Ausführlich rechtfertigte er das jüngste Klimapaket der Bundesregierung mit dieser ambitionierten Zielstellung. Der menschgemachte Klimawandel sei bewiesene Tatsache; Zweifler würden sich selbst ins Abseits stellen.
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Braun betonte, die Maßnahmen hätten auch zum Ziel, wirtschafts- und innovationsfördernde Impulse zu schaffen. Die Investitionen in klimafreundliche Technik seien auf lange Sicht auch günstiger. Denn die europäischen „Strafen“ für das Nichteinhalten der beschlossenen Grenzwerte seien höher und fehlen als Investition in die Forschung.
„3. Weg“ im Zeitalter der Digitalisierung
In Bezug auf die Digitalisierung sagt er, diese seiin China ist sie staatsgetrieben, in Amerika wirtschaftsgetrieben. In Europa stehe der Mensch im Mittelpunkt. „Wenn es uns gelingt, diese Werte in alle Welt zu transportieren, kann die DSGVO zum Erfolgsmodell werden – wie die soziale Marktwirtschaft“, so der Chef des Bundeskanzleramtes.
Nicht nur Hugo Müller-Vogg, Publizist und ehemaliger FAZ-Herausgeber, stand hinsichtlich der politischen Prioritäten mehr auf Seiten Oettingers und Rürups: „Das Klimathema wird mit zunehmender Arbeitslosigkeit und Wohlstandsverlusten wieder in den Hintergrund treten“ (siehe Interview). Professor Rürup mahnte, Deutschland braucht kein Konjunkturprogramm, aber Wachstumspolitik. Rürup nennt hier eine Unternehmenssteuerreform, bessere Abschreibungsmöglichkeiten gerade hinsichtlich der Digitalisierung sowie deutliche Verbesserungen bei der Infrastruktur.
„Deutschland geht va banque“
DDW-Herausgeber Michael Oelmann skizzierte anhand von Analysen aus dem Weltmarktführerranking sowie der Liste der größten Familienunternehmen, was wirtschaftlich angesichts des vieldiskutierten „Systemwechsels“ der Wirtschaft sowie deindustriellen Tendenzen auf dem Spiel steht. 94 Prozent der 1.000 größten deutschen Weltmarktführer seien Industrieunternehmen, und sowohl hier, als auch bei den 1.000 größten Familienunternehmen, sei Automobilzulieferung die zweitwichtigste Branche. „Deutschland geht wirtschaftspolitisch hinsichtlich des politisch gewollten Endes des Verbrennungsmotors va banque„, sagte Oelmann. Ein Scheitern in dieser Kernbranche sei ein schwer verkraftbarer Schlag für die deutsche Volkswirtschaft.
Handelsstreit: Schwierige strategische „Sandwichposition“ Deutschlands
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Einhellig hingegen war die Analyse aller wirtschaftspolitischen Statements in Bezug auf die Herausforderungen, die sich aus der bipolaren Neusortierung der Weltbühne zwischen den USA und China ergeben. Der aktuelle Handelskonflikt zwischen den USA und China wurde als Momentum eines Ringens um die wirtschaftliche, politische und militärische Weltführerschaft beider Staaten identifiziert, die die deutschen Unternehmen noch lange beschäftigen wird. Deutschland als führende Exportnation finde sich dabei in einer kritischen strategischen „Sandwichposition“. Der Begriff des „Zwergstaats“ im Verhältnis zu den beiden Großmächten fiel mehrfach. Die einzige Chance Deutschlands läge daher in einer Stärkung der Position Europas als drittem ernstzunehmenden Akteur.
Was die Wirtschaft konkret darüber hinaus beschäftigt, wurde entlang der Themenfelder Digitalisierung und Fachkräftemangel auf Podien und Gesprächsrunden den Tag über erörtert. Den Anspruch des Wirtschaftsgipfels, neben Wirtschaft und Politik auch andere gesellschaftliche Felder zu behandeln, wurde in diesem Jahr durch eine kontroverse Diskussion rund um das Trendthema E-Sport aufgegriffen, unter anderem mit den Marketingvorständen von Borussia Dortmund und dem FC St. Pauli und dem hessischen Sportminister. Zu den Gästen und Referenten der weiteren Foren gehörten beispielsweise XING-Vorstand Alastair Bruce, Deutsche Bahn-Vorstand Martin Seiler, EToro-Deutschland-Chef Dennis Austinat oder Vanessa Weber, geschäftsführende Gesellschafterin Werkzeug Weber.
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