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Lasst die Kommunen doch bitte machen
Nur wenn Kommunen Vorschriften begründet ausblenden dürften, kommt das Land voran. Fünf Ansätze zum Kampf gegen die Bürokratie.
Von Boris Palmer
„Bürokratieabbau ist ein ethisches Desiderat“, sagte Alena Buyx, die Vorsitzende des deutschen Ethikrates, in einem Gespräch über Deutschlands oft quälend langsame Reaktionen in der Coronakrise. Tübingen war da noch die einzige Stadt in Deutschland, die Schulen offen hielt, indem die Schülerinnen und Schüler vor Unterrichtsbeginn Selbsttests durchführten. Das Problem: Die Tests der zweiten Generation, die man nur noch in die Nase und nicht mehr in den Rachen schieben musste, waren zwar schon zugelassen. Aber die Genehmigung zur Eigenanwendung durch das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte stand noch aus. Ich habe damals entschieden, dass wir die Erlaubnis zum Nasepopeln nicht abwarten und einfach loslegen. Mit Erfolg, einige Monate später wurde das einfache Tübinger System bundesweit praktiziert.
Wer so handelt, muss sich in Deutschland sofort Fragen besorgter Bürger und noch besorgterer Juristen und Journalisten gefallen lassen: „Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, dass …?“ Meist folgen dann absurd konstruierte Beispiele. So ein Selbsttest könnte ja im Auge landen oder die Nasenscheidewand durchstechen. Ich antworte mittlerweile in dieser Situation stets: „Ja, ich will die Verantwortung übernehmen. Dafür bin ich gewählt.“
So habe ich im November letzten Jahres entschieden, die Straßenbeleuchtung in Tübingen von 1 Uhr bis 5 Uhr abzuschalten. Wenn jede Kilowattstunde zählt, wie uns Robert Habeck damals eindringlich klarmachte, kann man nicht mitten in der Nacht die ganze Stadt hell erleuchten. Zehn Prozent des Stromverbrauchs der Stadtverwaltung haben wir damit eingespart, fast 3.000 Kilowattstunden jede Nacht. Jedoch nur sechs Wochen lang: Im Januar wies mich das Regierungspräsidium an, die ganze Stadt wieder hell zu erleuchten. Denn die nächtliche Dunkelheit widerspreche der Richtlinie zur Anlage von Fußgängerüberwegen aus dem Jahr 2001. Der Kommune sei es verboten, eine Abwägung zwischen den Risiken eines dunklen Zebrastreifens und den Folgen eines Blackouts durch Strommangel vorzunehmen. Einfach gesagt: Unsere Vorschriften interessiert der Krieg in der Ukraine oder eine Energiekrise nicht, die gelten einfach weiter.
Bürgermeister müssen irrsinnige Auflagen oft einfach schlucken
Anfang dieses Jahres haben wir ein neues Feuerwehrhaus im Stadtteil Lustnau eingeweiht. Zwischen den Parkplätzen der Feuerwehrleute und einer stark befahrenen Straße steht eine Lärmschutzwand. Sie war rechtlich zwingend notwendig, um die Wohnhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor dem Lärm zu schützen, den anrückende Feuerwehrleute auf dem Parkplatz erzeugen könnten, besonders durch knallende Autotüren.
Dass die Anwohner kaum eine Chance haben, den Lärm des Parkplatzes wahrzunehmen, weil die mehr als 20.000 Fahrzeuge auf der Straße viel lauter sind, spielt dabei keine Rolle. Die Grenzwerte für Lärm von Parkplätzen gelten absolut, egal, wie laut es an der Straße ohnehin schon ist. Ich musste den Kosten für die sinnfreie Lärmschutzwand zustimmen, um den Bau des Feuerwehrhauses nicht zu gefährden.
Weil es nicht anders geht, schlucken Bürgermeister und Gemeinderäte viele solcher Kröten. Und vieles dauert durch derartige Vorschriften quälend lange. Für den Bau der bislang größten Tübinger Solaranlage in den Lustnauer Ohren, zwei Schleifen an der Auffahrt zur vierspurigen Bundesstraße 27, haben wir acht Wochen benötigt. Für die Planung acht Jahre. Ein Naturschutzgutachten ergab wenig überraschend, dass in diesen verkehrsumtosten Restflächen keine Natur zu schützen ist. Die Juristen interessierte das nicht, formal handelte es sich um wertvolle Ausgleichsfläche für den Schaden, der durch den Bau der Bundesstraße entstanden war.
Daher musste dieser Ausgleich an anderer Stelle aufwändig neu hergestellt werden. Die Straßenbehörden verlangten ein Blendschutz gutachten und als nichts blendete, wollten sie einen Abstand von 20 Metern zur Fahrbahn freihalten – falls ein Autofahrer es entgegen den Gesetzen der Fliehkraft schaffen würde, von einer kreisförmigen Auffahrt nach innen von der Fahrbahn abzukommen.
Das Gespür für das richtige Maß ging verloren
Auch die Vorschriften für Fluchtwege und Brandschutz in öffentlichen Gebäuden haben jeden Sinn für das reale Ausmaß von Gefahren verloren. Während die Todesstatistik nachweist, dass Feuer vor allem im Schlaf in den heimischen Wänden gefährlich ist und Opfer in öffentlichen Gebäuden wie Schulen oder Konzerthäusern so gut wie nie zu beklagen sind, werden weiterhin Milliarden in alte öffentliche Gebäude gesteckt und Nutzungen untersagt. Die Festung Hohentübingen gehört zu den sichersten Orten in der Stadt. Der Innenhof des Schlosses ist gekiest, brennen kann da nichts und ein Attentäter käme mit einem LKW nicht mal durch das Tor. Trotzdem wurden selbst Klassikkonzerte verboten, weil die Herzöge von Württemberg vor 500 Jahren die heutigen Normen für Fluchtwegbreiten missachtet haben.
Jeder Bürgermeister kann abendfüllende Geschichten über haarsträubende Auswirkungen von Vorschriften und behördlichem Autismus erzählen. Trotzdem wird über Bürokratieabbau immer nur geredet. Der Grund ist einfach: Mit bürokratischen Methoden erzeugt man immer nur neue Bürokratie. Kommissionen zum Abbau von Bürokratie sind ein Widerspruch in sich. Das „Deutschland-Tempo“, das sich Olaf Scholz wünscht, setzt ein grundsätzliches Umdenken voraus.
Nur um es einmal klar zu sagen: Natürlich schafft Bürokratie Rechtssicherheit und Gerechtigkeit. Sie trägt damit zum Florieren der Wirtschaft und zum Frieden in der Gesellschaft wesentlich bei. Seit Paracelsus wissen wir aber, dass die Dosis das Gift macht. Und wir haben in Summe und in vielen Teilbereichen das verträgliche Maß an Bürokratie längst überschritten. Ich halte es daher nicht nur ethisch, sondern ganz praktisch für dringend geboten, die Gründe für das Ausufern der Bürokratie zu beschneiden. Dafür sehe ich fünf wesentliche Ansatzpunkte.
- Die Angst vor der Verantwortung überwinden
Wenn ein konkreter Sachverhalt zu bewerten ist, dann gerät immer der in Rechtfertigungsdruck, der etwas erlaubt. Wer hingegen unter Verweis auf die Sicherheit von Menschenleben etwas verbietet, ist selbst auf der sicheren Seite. So setzt sich mit der Zeit immer die strengere Interpretation der Vorschriften durch. Gegen diese Eskalationsspirale der Angst sind Klarstellungen nötig. Niemand sollte ein persönliches Risiko tragen, wenn er Forderungen ablehnt, die über das Gesetz hinaus gehen. - Die Suche nach den Schuldigen einstellen
Eng verbunden mit der Angst vor Verantwortung ist die Lust an der Suche nach Schuldigen. Wenn es zu einem tragischen Unglück kommt, ist die erste Frage der Medien und später womöglich der Staatsanwälte, wer daran schuld ist. Das Wissen um dieses Risiko sorgt dafür, dass jedes noch so sinnlose Papier eingefordert wird. Dass daraus meist kein realer Sicherheitsgewinn folgt, spielt keine Rolle. - Deutschen Perfektionismus überwinden
Je mehr ein Land durchreguliert ist, umso geringer ist der Zugewinn weiterer Regeln. Der Begriff des Grenznutzens ist aus der Ökonomie wohl bekannt, in der Bürokratie aber weithin verkannt. Ob es sich noch lohnt, auf ein Schutzniveau von 99 Prozent weitere 0,1 Prozent draufzusatteln, wird kaum diskutiert. Wir müssen als Gesellschaft Risiken besser bewerten und Restrisiken als solche akzeptieren. Nichts ist hundertprozentig sicher - Silodenken überwinden
Bürokratien sind hierarchisch organisiert und in Silos zergliedert. Man nennt das Zuständigkeit. Was die Zuständigkeit anderer ist, geht mich nichts an. Manche Sicherheitsvorschriften führen nur im Verantwortungsbereich des Zuständigen zu einer Verbesserung, aber insgesamt betrachtet zu einer Verschlechterung. Wer Normen verschärft, sollte nachweisen müssen, dass der Schaden an anderer
Stelle nicht weitaus größer ist als der erhoffte Nutzen. - Problemdistanz des Normgebers verringern
So wie der Blick nach rechts und links oft fehlt, ist auch die Entfernung zum Problem häufig ein Problem. Landesparlamente sollten die Interessen der kommunalen Basis im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen, tun dies aber mangels Kompetenz selten. Städte und Gemeinden müssen daher institutionell stärker eingebunden werden. Sie sind es schließlich häufig, die umsetzen müssen, was anderswo entschieden wird.
Wenn wir es nicht schaffen, die Bürokratie einzuhegen, wird der Personalmangel in der öffentlichen Verwaltung das Problem auf unkonventionelle Weise lösen müssen. Es gibt die Leute schlicht nicht mehr, die all die Vorschriften lesen, verstehen und anwenden könnten.
Aus meiner Sicht als Oberbürgermeister wäre die einfachste und am schnellsten wirksamste Maßnahme: Gebt den Kommunen das Recht, begründet von den zigtausend Vorschriften und Normen abzuweichen, wo dies vor Ort notwendig erscheint. Wir brauchen diese kommunale Abweichungskompetenz. Nur was wörtlich im Gesetz steht, sollte unumstößlich gelten. Alles andere sollte mit guten Gründen und durch Ermessensentscheidung den Erfordernissen der Wirklichkeit angepasst werden dürfen.
Bund und Länder täten gut daran, den Kommunen mehr zu vertrauen. Wir haben hervorragende Mitarbeiter in den Genehmigungsbehörden, starke Gemeinderäte und vom Volk gewählte Verwaltungschefs. Nur wer den Entscheidern vor Ort den Rücken stärkt, kann das Deutschland-Tempo erreichen. Wir in den Kommunen können das. Man muss uns nur lassen.
Boris Palmer ist seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen (Rang 68 im Standortranking Deutschland). Zuvor langjähriges Mitglied der Grünen, trat er zur letzten Oberbürgermeisterwahl als parteiloser Kandidat an und errang im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit. Seine dritte Amtszeit hat am 11. Januar 2023 begonnen und beträgt acht Jahre. Der vorliegende Gastbeitrag erschien zuerst bei Zeit online.
Lieber Herr Palmer!!
Sie haben vollkommen recht. Als Brandschutzingenieur kann ich viele Abweichungen von baurechtlichen Regelungen (und besonders die der ASR) in Abweichung gut begründen. Dazu reichen Ingenieurmethoden bzw. begründete Argumentation und eine zweite prüfende Person völlig aus (vorausgesetzt diese klammert sich wiederum nicht nur an gesetzliche Regelungen / Normen).
Würden wir in den Planungen nur die Schutzziele der einzelnen baurechtlichen Regelungen zugrunde legen und es Planer/in und Prüfer/in überlassen wie diese erreicht werden, wäre das ein „großer Sprung nach vorn“.
Mit besten Grüßen
Steffen Kallinowsky