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Mit einem „weiter so“ geht es nicht
Deutschland kann sich dem Veränderungsdruck der Globalisierung und der demographischen Entwicklung nicht entziehen. Politik muss darauf reagieren. Von Gerhard Schröder.
Die Agenda 2010 war ein sehr umfassendes Modernisierungs-Programm, manche bezeichnen sie sogar als das tiefgreifendste in der bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Mit diesen Reformen wurde damals – vor mehr als zehn Jahren – auf zwei Herausforderungen reagiert: die der Globalisierung und die des demographischen Wandels. Dafür war zweierlei notwendig: Zum einen die Anpassung der sozialen Sicherungssysteme, um sie bezahlbar zu halten – und damit zukunftssicher zu machen. Und zum anderen eine stärkere Orientierung in den staatlichen Investitionen auf Innovation, Forschung und Bildung. Also das Investieren in die einzige Ressource, die unser Land hat: In die Köpfe der Menschen.
Unser Land hat eine Reformpause eingelegt
Das heute in Erinnerung zu rufen, halte ich für wichtig. Denn angesichts exzellenter Wirtschafts- und Haushaltsdaten sind die genannten Herausforderungen in der öffentlichen Debatte etwas in den Hintergrund getreten – aber sie existieren immer noch. Doch Deutschland kann sich dem Veränderungsdruck der Globalisierung und der demographischen Entwicklung nicht entziehen. Politik muss darauf reagieren.
Unser Land hat nach der Agenda 2010 eine Reformpause eingelegt. Und als Politiker kann ich nachvollziehen, warum: Die Durchsetzung dieser Reformen war ein schwieriger und ein umstrittener Prozess, für den die Beteiligten einen hohen politischen Preis bezahlt haben. Wie Sie wissen, bin ich nicht freiwillig gegangen. Und manche – und auch manch eine – haben daraus Konsequenzen gezogen – nämlich die, die Deutschen mit Reformen erst einmal in Ruhe zu lassen. Das hat auch gut funktioniert, weil die positiven Wirkungen der Agenda 2010 nachhaltig waren. Übrigens: nachhaltiger als ich es selbst, und viele in der Wissenschaft, es vermutet hatten.
![Bilder: © Ludwig-Erhard-Stiftung / Fotos: Dirk Hasskarl, www.hasskarl.de.](https://ddwcdn.b-cdn.net/wp-content/uploads/2016/09/schröder2.jpg)
Preisträger des Ludwig-Erhard-Preises 2016
Gerhard Schröder, Bundeskanzler a.D., und Holger Steltzner, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wurden am Dienstag, dem 20. September 2016, mit dem diesjähriges Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik im Rahmen einer Festveranstaltung in Berlin ausgezeichnet. Die Festrede hielt Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble. Die Rede von Gerhard Schröder bei der Preisverleihung dokumentieren wir hier.
Altbundeskanzler Ludwig Erhard gründete 1967 die Ludwig-Erhard-Stiftung und gab ihr die Aufgabe, für freiheitliche Grundsätze in Wirtschaft und Politik einzutreten und die Soziale Marktwirtschaft wachzuhalten und zu stärken. Die Stiftung ist von Parteien und Verbänden unabhängig und als gemeinnützig anerkannt. Sie tritt politischem Opportunismus und Konformismus mit einem klaren Leitbild entgegen: Freiheit und Verantwortung als Fundament einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für den mündigen Bürger.
Immense Herausforderungen
Trotz der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 steht Deutschland ökonomisch, vor allem auch arbeitsmarktpolitisch glänzend da. Aber diese Phase der – ich will es mal so nennen: – „Biedermeierzeit“ ist nun beendet. Wir stehen vor immensen Herausforderungen, die mit einem einfachen „weiter so“ nicht mehr zu bewältigen sind. Die Globalisierung ist ein Prozess, der voran schreitet. Der auch nicht durch nationalstaatliches oder gar protektionistisches Handeln zu stoppen ist. Die demographische Entwicklung ist in fast allen entwickelten Industrienationen sehr ähnlich. Sie lässt sich auch nicht austricksen. Wir müssen vor diesem Wandel keine allzu großen Sorgen haben, aber wir müssen nachhaltige Antworten finden. Die Rente mit 63 ist das sicherlich nicht!
Mit viel Herz, aber wenig Plan auf Migrationsdruck reagiert
Zudem erleben wir einen verstärkten Migrationsdruck, ausgelöst durch Konflikte in der europäischen Nachbarschaft, aber auch bedingt durch die großen Einkommensunterschiede innerhalb Europas. Auch das ist keine neue und unvorhersehbare Entwicklung, wenn auch die europäische und die deutsche Politik erschreckend spät reagiert haben. Und als es dann so weit war, wurde mit viel Herz, aber wenig Plan gehandelt.
Wir bewegen uns in einer Zeit von Unsicherheiten, weil manche Selbstgewissheiten in Frage stehen. Der Prozess der europäischen Integration, der fast sechs Jahrzehnte andauerte, ist gestoppt. Mit dem Brexit erleben wir eine Zäsur, die weit über das Ökonomische hinaus eine politische Dimension besitzt. Und wir spüren weiterhin die Nachwirkungen der europäischen Währungskrise, die im Kern eine Strukturkrise ist. Zudem sind die Risiken für die Weltwirtschaft, die von den Konflikten und Kriegen in Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten und in der Ukraine ausgehen, nicht kalkulierbar. Sie haben – auch wegen der Schwäche der Schwellenländer – bereits die Wachstumsaussichten der Weltwirtschaft eingetrübt, und das ist für eine Exportnation wie Deutschland immer eine Gefahr.
Auf diese Herausforderungen muss Deutschland reagieren. Wir sind die größte europäische Volkswirtschaft. Wir sind die drittgrößte Exportnation der Welt. Wir haben eine politische wie wirtschaftliche Verantwortung, die weit über unsere nationalen Grenzen hinausgeht.
Wir müssen die Reformpause beenden
Als wir die Agenda 2010 beschlossen haben, waren wir – um ein englischsprachiges Magazin zu zitieren – der „sick man of Europe“. Die Agenda 2010 hat dazu beigetragen, dass wir heute in Europa eine prosperierende Wirtschaftsmacht sind. Über diese Position können wir uns freuen, aber daraus ergeben sich größere politische Möglichkeiten als früher – und natürlich auch eine größere Verantwortung in und für Europa. Damit wir diese auch in Zukunft wahrnehmen können, müssen wir auf die skizzierten Herausforderungen reagieren, durch eine moderne und reformorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Und aus diesem Grund habe ich den Preis angenommen, weil ich damit einen Appell verbinde: Es ist Zeit, Deutschlands Reformpause zu beenden! Um nur einige Aufgaben zu beschreiben:
- Bei der Rente wird es um eine Flexibilisierung des Renteneintritts gehen müssen, langfristig auch um eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters.
- Stärkere öffentliche Investitionen, insbesondere in die Infrastruktur sind notwendig.
- Die Energiepolitik muss so gestaltet werden, dass sie den Industriestandort stärkt und nicht schwächt. Denn die Industrie wird neben dem Mittelstand die zweite Säule unserer Volkswirtschaft bleiben.
- Entlang der gesamten Bildungskette – von der frühkindlichen Betreuung bis hin zu den Universitäten muss mehr investiert werden. Heute in die Ausbildung junger Menschen sowie in Forschung zu investieren liegt in der Logik unternehmerischen, aber auch politischen Handelns.
Lassen Sie mich eine Anmerkung zu der wohl aktuellsten Herausforderung der deutschen und der europäischen Politik machen – der Flüchtlings-, Migrations- und Integrationspolitik. Wir können das schaffen – aber nur, wenn wir die Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen. Und wenn wir die Debatte versachlichen und die beiden Volksparteien gemeinsam nach Lösungen suchen. Das ist sicherlich zwischen SPD und CDU leichter als zwischen CSU und CDU.
Gewollte Zuwanderung und Asyl müssen entkoppelt werden
Ein Blick auf die Weltkarte macht klar, dass es keine nationale Lösung geben kann. Wir brauchen internationale Ansätze, insbesondere bei der Bekämpfung der Fluchtursachsen und bei der Ausstattung der Flüchtlingslager in der Region. Der Bundesaußenminister arbeitet hier unermüdlich an Lösungen mit. Und zudem müssen wir national einen Weg finden, wie wir legale Zuwanderung nach Deutschland ermöglichen. Denn gewollte Zuwanderung und Asyl müssen entkoppelt werden. Dafür brauchen wir ein modernes Zuwanderungsgesetz – ähnlich wie das die USA und Kanada haben. Und zwar für Arbeitskräfte, die wirklich qualifiziert sind.
Bereits im Jahr 2030 werden uns in Deutschland – auf Grund der demographischen Entwicklung – sechs Millionen erwerbsfähige Menschen fehlen. Das wird erhebliche Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die Wachstumschancen haben. Es wird auch Auswirkung auf unsere umlagefinanzierte Sozialversicherung haben. Die Zuwanderung von Fachkräften kann einen Beitrag leisten, um sie zu stabilisieren. Aber das wird nur dann funktionieren, wenn diese jung und qualifiziert sind und schnell gut bezahlte Arbeit finden. Das sicherzustellen, dafür braucht es ein modernes Zuwanderungsrecht. Und ich halte es für wichtig, dass sich die Politik dieser Frage zügig annimmt.
Die Reformen haben nur zusammen mit Wachstumsimpulsen gewirkt
Aus den deutschen Reformerfolgen können im Übrigen Lehren für die europäische Politik gezogen werden. In der Eurozone sind in den vergangenen Jahren wichtige Entscheidungen getroffen worden, die die Gemeinschaftswährung krisenfester gemacht haben. Der Europäische Stabilitätsmechanismus und die Bankenunion waren wichtige Schritte, die das Vertrauen gestärkt haben. Aber wir sehen zugleich, dass die expansive Geldpolitik der EZB in der Realwirtschaft nicht ankommt. Hier müssen die nationalen Regierungen handeln, indem sie die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften durch Strukturreformen verbessern – vergleichbar mit den Agenda-Reformen.
Es gibt eine Erfahrung aus der Historie der Agenda 2010, die auch für die heutige Zeit entscheidend sein kann: Diese Reformen haben nur zusammen mit Wachstumsimpulsen gewirkt. Es hat einige Jahre und eine wirtschaftliche Belebung gebraucht, bis sie ihre ganze Wirkung entfalten konnten. Zeitlich zusammenfallend mit einer strikten Sparpolitik wären die Reformen für mich politisch kaum durchsetzbar gewesen. Und sie hätten sich auch wirtschaftlich nicht so schnell als erfolgreich erwiesen. Austerität darf also nicht die einzige Antwort der europäischen Politik sein. Es sind Investitionen und haushaltspolitische Freiräume für die Nationalstaaten notwendig. Und diese Freiräume sollte die Europäische Kommission gewähren – wie sie es ja bereits im Fall von Spanien getan hat. Und es ist gut, dass der Bundesfinanzminister hier keine Steine in den Weg gelegt hat.
Was Cameron gemacht hat, gehört in die Kategorie des größtmöglichen Politikversagens
Die europäische Integration hat in den vergangenen Jahren ohne Zweifel Rückschläge erlitten. Und der beschlossene Austritt Großbritanniens zählt dazu. Ich habe während meiner Kanzlerzeit bei meinen europäischen Kollegen einige unverantwortliche politische Entscheidungen erlebt – wir sprechen hier nicht nur vom Irak-Krieg. Ich selbst spreche mich im Übrigen auch nicht frei von politischen Fehlern. Aber was der britische Premierminister Cameron gemacht hat, gehört in die Kategorie des größtmöglichen Politikversagens.
Er hat im Prinzip einen Konflikt, den er innerhalb seiner eigenen Partei nicht lösen konnte, dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Und damit hat er nicht nur der europäischen Integration einen schweren Schlag versetzt. Er hat damit auch die Existenz des Vereinigten Königreiches in Frage gestellt. Die mittel- bis langfristigen Auswirkungen des Brexit-Referendums lassen sich kaum beurteilen. Bisher wurde der Austritt noch nicht einmal offiziell beantragt.
Ich warne aber davor, den Briten bei den Verhandlungen zu weit entgegenzukommen. Denn mögliche Zugeständnisse könnten den EU-Gegnern in anderen Mitgliedsstaaten in die Hände spielen, und als Argument für Austrittsgedanken dienen. Bei der Personenfreizügigkeit darf es keine Abstriche geben. Für die britische Wirtschaft erwarte ich größere Probleme. Die kräftige Abwertung des Pfunds mag der Exportwirtschaft kurzfristig helfen. Dennoch sehe ich, dass Großbritannien als Folge einer Investitionszurückhaltung vor einem realwirtschaftlichen Abschwung steht.
Diese schmerzhafte Erfahrung wird hoffentlich dazu führen, dass andere Staaten dem britischen Beispiel nicht folgen werden. In der Folge wird es im Interesse des Euro zu mehr Integration in der Eurozone kommen müssen. Denn langfristig muss der Strukturfehler behoben werden, unter dem die Währungsunion seit ihrer Gründung leidet.
Wir nähern wir uns dem Modell des Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten an
Die vergemeinschaftete Geldpolitik steht einer national verantworteten Finanz- und Wirtschaftspolitik in den Mitgliedsstaaten gegenüber. Die Eurozone braucht eine koordinierte Finanz-, Wirtschafts- und auch Sozialpolitik. Auch wenn es schwierig sein wird, die Nationalstaaten von einem Abtreten von Hoheitsrechten zu überzeugen, ist das der notwendige Weg.
Damit nähern wir uns dem Modell des Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten an, das Wolfgang Schäuble ja bereits 1994 skizziert hat. Vielleicht wird das Konzept flexibler Integration die Antwort auf die europäische Krise sein. Ein Europa, das sich in drei Gruppen unterteilt:
- Die Eurozone mit einem sehr hohen Integrationsgrad, insbesondere in der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik.
- Die Staaten, die Mitglied der Europäischen Union, aber nicht Teil der Eurozone sind – mit einem abgestuften Integrationsgrad.
- Und als dritte Gruppe Staaten wie die Schweiz, Norwegen und dann eben auch Großbritannien – mit oder ohne Schottland -, die über Verträge eng an die Union gebunden sind.
Das Konzept flexibler Integration mag im Übrigen auch ein Weg sein, wie die Staaten des westlichen Balkans, aber auch die Türkei erfolgreicher Teil der europäischen Integration werden können. Und ich merke an: es ist eines fernen Tages auch eine Möglichkeit, um Russland wieder näher an die Europäische Union heranzuführen, etwa über ein Assoziierungsabkommen.
Es braucht mutige Reformen
Unsere Wirtschaftsordnung hat in den vergangenen sieben Jahrzehnten dafür gesorgt, dass die Menschen in unserem Land – zunächst im Westen, später dann auch im Osten – in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben konnten. Es ist eine Wirtschaftsordnung, die die Früchte des Wachstums gerecht – nicht jedem gerecht genug – verteilt und die Teilhabe an den Bildungschancen weitgehend gewährt.
Das müssen wir nicht nur erhalten, sondern verbessern. Denn wenn das nicht gelingt, dann schafft das letztlich ein Demokratieproblem. Ohne soziale Sicherheit wird Freiheit als Bedrohung empfunden. Niemand hat diesen Gestaltungsbedarf im Übrigen klarer formuliert als Ludwig Erhard selbst. Dieses deutsche Erfolgsmodell ist unter den heutigen nationalen wie internationalen Herausforderungen in Gefahr. Genau hier ist die Politik gefordert. Sie muss unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft auf diese Herausforderungen einstellen. Und dafür braucht es mutige Reformen. Das ist mein Rat an die heute politisch Handelnden.
Bild: © Ludwig-Erhard-Stiftung / Fotos: Dirk Hasskarl – www.hasskarl.de
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