Mitarbeiter in einer komplexen Wissensgesellschaft

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Peter F. Drucker hat 1957 erstmals die Spezies des Wissensarbeiters beschrieben. Zumeist assoziieren wir damit Menschen, die in weißen Hemden oder Blusen an Computern oder Schreibtischen arbeiten. Das greift jedoch nicht weit genug.

In der heutigen Gesellschaft ist fast jeder ein Wissensarbeiter, selbst Schuhverkäufer, Fabrikarbeiter oder Reinigungskräfte sind heute Wissensarbeiter. Sie unterscheiden sich in einem Punkt grundlegend von den Handarbeitern der industriellen Revolution: Die Produktivität von Wissensarbeitern lässt sich nicht in erster Linie durch Erhöhung des Arbeitstempos und Verbesserung der Prozessqualität steigern. Produktivitätssteigerung erreichen Wissensarbeiter vor allem durch das richtige Verständnis der eigenen Aufgabe. Im Vordergrund steht die Frage: Was ist meine Aufgabe? und erst dann Wie führe ich diese aus? Ansonsten läuft man Gefahr, mit hoher Effizienz und Präzision die falschen Dinge zu tun.

Beispiel: Die mutige Reinigungskraft 
Haben Sie Reinigungskräfte schon einmal bei ihrer Arbeit beobachtet? Einige folgen peinlich genau dem angewiesenen Ablauf und arbeiten stets mit derselben Routine gemäß einem gleichbleibenden Zeitplan. Andere entscheiden mutig und eigenständig aufgrund des aktuellen Verschmutzungsgrades und setzen wechselnde Prioritäten: Sie widmen einigen Bereichen bewusst weniger Aufmerksamkeit, um andere gründlicher zu reinigen. Welche Reinigungskraft ist wohl produktiver? Ein klares Verständnis davon, was die eigene Aufgabe ist – und die Freiheit, selbst Prioritäten zu setzen, bestimmt maßgeblich die Produktivität von Wissensarbeitern.

Im Unterschied zur mutigen Reinigungskraft und führenden Beraterin beruhen viele der gängigen Führungs- und Organisationskonzepte noch immer auf dem Rollenverständnis von Mitarbeitern als Ausführende. Beleuchten wir diese unbeschönigt und ehrlich, versucht man Mitarbeiter zu programmieren: Arbeitsabläufe werden optimiert, Prozesse standardisiert, Vorgehensweisen zertifiziert und Fehlverhalten korrigiert. Manche Arbeitsanweisungen, Stellenbeschreibungen, Zielvereinbarungen und Reglements lesen sich wie Computerprogramme für Menschen. Jeder einzelne Schritt wird detailliert beschrieben, jeder Eventualität wird versucht vorzubeugen. Einige Vorgesetzte sind überzeugt, dass Mitarbeiter genau dies wünschen und benötigen: klare Anweisungen und regelmäßige Überwachung. Diese Herangehensweise funktionierte hervorragend während der industriellen Revolution. In komplexen, d. h. sich schnell verändernden, dynamischen und vernetzten Systemen sind diese Herangehensweisen in vielen Fällen zum Scheitern verurteilt.

Die Rollenanforderung an Mitarbeiter sind maßgeblich verändert

Die Dominanz der Wissensarbeit – auch in Industrieunternehmen – hat die Rollenanforderung an Mitarbeiter längst schon maßgeblich verändert. Mitarbeiter müssen ihren eigenen Arbeitsbereich aktiv gestalten, um produktiv zu sein und ihren Teil zur Komplexitätsbewältigung im Unternehmen zu leisten. Sie müssen entscheiden, welche Dinge wichtig sind, was sie zuerst erledigen, wieviel Zeit und Energie sie für die einzelnen Aufgaben aufwenden und wie sie die Herausforderungen bewältigen. Sie können sich lange mit Dingen beschäftigen, die keinen Mehrwert bringen, oder die Dinge falsch erledigen. Auch besteht ein relevanter Unterschied zwischen höchstem Qualitätsanspruch und der Einstellung: Erledigt ist besser als perfekt. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung – eine Entscheidung muss jedoch bewusst getroffen werden.

Die zunehmende Komplexität der Arbeit und des Umfelds erfordert ständig Entscheidungen, die durch eine klassische Hierarchie nicht mehr richtig und rechtzeitig geleistet werden können. Die Vielzahl dieser täglichen Entscheidungssituationen hat zur Folge, dass jeder Mitarbeiter diese nur für sich selbst klären kann.

Mit Rolle der Mitarbeiter sind hier durchaus zwei Perspektiven gemeint: einerseits die Rollenerwartung, die Vorgesetzte wissentlich oder manchmal auch unbewusst gegenüber Mitarbeitern haben, andererseits das Rollenverständnis, das Mitarbeiter in einer Organisation gewählt oder erlernt haben. Manchmal decken sich Erwartung mit Verständnis, manchmal gibt es aber Differenzen. Unterschiedliche Auffassungen führen nicht selten zu Problemen in der Führungszusammenarbeit. Selbst wenn Vorgesetzte und Mitarbeiter dasselbe Verständnis haben, erschweren oder verunmöglichen unternehmensinterne Prozesse, Vorschriften oder Systeme manchmal eine adäquate Zusammenarbeit.

Ein Führungsstil, dem andere freiwillig folgen

Diese beiden Rollen, die Mitarbeiter einnehmen können, lassen sich ausdifferenzieren und erweitern. Gefolgschaft ist in vielen Situationen wichtig. Sie bedeutet nicht die sture Ausführung von Anweisungen, sondern intelligent und mitdenkend einem Anführer zu folgen. Derek Sivers (2010) formulierte dazu: „Der erste Gefolgsmann verwandelt einen einsamen Verrückten in einen Anführer.“ Dann kann ergänzt werden im Sinne der gestaltenden Tätigkeit von Mitarbeitern mit anderen – dem Führen von Kollegen und anderen Mitarbeitern ohne formelle Führungsrolle. Darunter verstehen wir nicht Alleinherrschaft ähnlich einer Führungskraft, sondern vielmehr Gleichgestellte anführen, d. h. ein Führungsstil, dem andere freiwillig folgen. Auf dieser Stufe verschwimmt der Unterschied zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Jeder führt entsprechend der Notwendigkeit und seiner Kompetenzen. Und alle folgen denjenigen, die Führungsverantwortung kompetent wahrnehmen.

Wir sprechen hier bewusst von der Rolle der Mitarbeiter – nicht von der Persönlichkeit, der Fähigkeit oder der Präferenz von Mitarbeitern. Der Unterschied wird deutlich, wenn Sie sich und andere in verschiedenen Kontexten beobachten. Manche Mitarbeiter, die im Arbeitsumfeld vermeintlich nicht fähig sind, aktiv zu gestalten, agieren in ihrer Freizeit als hervorragende Führungspersönlichkeiten: im Fußballklub, in einer Freiwilligen-Organisation oder der örtlichen Musikgruppe. Manch hervorragende Führungskraft hingegen ist im privaten Umfeld ein braver Gefolgsmann des Partners. Menschen können unterschiedliche Rollen einnehmen, je nachdem was gefordert, erwünscht oder möglich ist. Dies wird gerade in Krisensituationen deutlich, wenn viele Menschen über sich hinauswachsen.

Menschen sind weit flexibler als manche Führungskraft glaubt

Rollen werden meist unbewusst eingenommen – beeinflusst vom Umfeld, von Präferenzen und der eigenen Wahrnehmung der Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Alternativen. Haben Mitarbeiter im Unternehmen erfahren, dass Eigeninitiative nicht geschätzt (oder gar bestraft) wird, werden sie die entsprechende, angepasste Rolle einnehmen. Ähnliches geschieht, wenn eine übermächtige Führungskraft keinen Raum für andere lässt. Sofern im Unternehmen Eigeninitiative anerkannt oder gar gefordert wird, verhält es sich umgekehrt. Nicht selten füllen auch Mitarbeiter ein plötzlich entstandenes Führungsvakuum, die vorher nicht durch ihren Gestaltungswillen aufgefallen sind. Natürlich bestimmen auch die eigenen Präferenzen und das persönliche Umfeld, ob jemand eine ausführende oder gestaltende Rolle einnehmen will.

Es gibt nur wenige Menschen, die ausschließlich geborene Befehlsempfänger sind und in keiner Situation gestaltend eingreifen: Im Zweifel macht Not erfinderisch, sobald man auf sich alleine gestellt ist. Umgekehrt gibt es nur wenige Menschen, die situationsunabhängig immer gestalten müssen. Selbst notorische Freiheitskämpfer, die in Diktaturen ihr Leben riskieren, offenbaren in ihren Biografien, dass sie in unterschiedlichen Kontexten und Lebensphasen verschiedene Rollen eingenommen haben. Menschen sind somit weit flexibler als manche Führungskraft glaubt.

Dem Wettbewerb einen Schritt voraus sein

Manchmal wird auch von der Reife der Mitarbeiter gesprochen. Damit wird unterstellt, dass es unreife Mitarbeiter gibt, die geführt werden müssen und es meist auch wollen. Und andererseits reife Mitarbeiter, denen man einen Gestaltungsfreiraum geben darf und auch sollte. Dieser Ansicht möchten wir aus oben genannten Gründen widersprechen. Mitarbeiter benötigen einen hohen Reifegrad, um zu erkennen, wann Gefolgschaft wichtig und angebracht ist, um Führungskräften dann (freiwillig) zu folgen. Ebenso benötigen Führungskräfte Reife, um in gewissen Situationen ihren Mitarbeitern zu folgen oder auch einen Schritt zurückzutreten. Am ehesten könnte man von der Reife einer Organisation und der Führungskultur sprechen, die Mitarbeiter als erwachsene Menschen versteht – oder eben nicht.

Ob Mitarbeiter gestalten oder folgen wollen, hängt von vielen Faktoren ab, jedoch nur sehr beschränkt von der Reife der Mitarbeiter selbst. Alle – Mitarbeiter wie Führungskräfte – benötigen zusätzliche Kompetenzen, um Mitarbeitern Gestaltung vermehrt zu ermöglichen. Nicht nur die zunehmende Wissensarbeit macht es unausweichlich, Mitarbeiter als Gestalter im Unternehmen zu betrachten. Diese Sichtweise ist ebenso notwendig, um die komplexen Herausforderungen, vor denen Unternehmen heute stehen, erfolgreich zu meistern. Darüber hinaus bietet sie immense Chancen, das Potenzial des Großteils der Mitarbeiter zu nutzen, um dem Wettbewerb sogar einen Schritt voraus zu sein.

Hermann Arnold

Hermann Arnold versteht sich als Erforscher und Ermutiger neuer Formen der Zusammenarbeit und der Führung. Bekannt wurde er als Mitgründer und langjähriger Geschäftsführer von Haufe-umantis, einem der weltweit führenden Anbieter von Software und Expertise im Bereich Talentmanagement. Gemeinsam mit seinen Kollegen erprobt und entwickelt er dort revolutionäre Maßnahmen von Unternehmensdemokratie. In seiner Reihe beschreibt er jeden 2. und 4. Mittwoch im Monat seine Erfahrungen.

Mitwirkung und Erfahrungsaustauch zu dem Themenkreis ist erwünscht: Offenes Betriebssystem

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