Leute wissen, was sie denken, wenn sie sehen, was sie sagen

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Innovationen sind kein Zufall, sondern können geplant und mithilfe von gut entwickelten Prozessen innerhalb eines Unternehmens langfristig implementiert werden. Ein bewährtes Konzept ist Design Thinking, dessen Siegeszug eng mit SAP-Mitbegründer Hasso Plattner verbunden ist und dessen Wurzeln bis zu Walter Gropius und dem Bauhaus zurückführen.

Von Dr. Dr. Niels H. M. Albrecht

Eine Titelstory im US-amerikanischen Magazin BusinessWeek mit der Überschrift »The Power of Design« vom 17. Mai 2004 elektrisierte den SAP-Mitbegründer Hasso Plattner. Auf dem Cover entdeckte er David Kelley, dessen Aussagen ihn an seine eigenen Anfangsjahre bei SAP erinnerten. Damals waren er und sein Partner regelmäßig von Walldorf aus zu den Kunden und Kundinnen aufgebrochen, um deren Herausforderungen besser zu verstehen und ihnen die richtigen Softwarelösungen anbieten zu können. Der Nutzen für die Kunden und Kundinnen stand für Hasso Plattner immer im Mittelpunkt. Im Rückblick war das die entscheidende Stellschraube für den Erfolg von SAP. So beschloss Plattner, einen zweistelligen Millionenbetrag in die Start-up-Initiative von David Kelley zu investieren. Sein Instinkt sollte ihn auch bei dieser Entscheidung nicht täuschen. Das Engagement für die ›d.school‹ wurde zu einem langfristigen Begleiter von Hasso Plattner und seinem weltweiten IT-Konzern. Doch damit nicht genug: Der Ansatz der Designschule wurde zu einem entscheidenden Motor für Veränderungen.

Die ›d.school‹ wurde von Kelley, dem Begründer der Design- und Innovationsberatungsfirma IDEO, und dessen Professoren-Team an der Stanford University in Palo Alto aufgebaut. Hier sollten Studierende nicht nur aus dem Designbereich, sondern aus allen Fachbereichen zusammenkommen, um gemeinsam an komplexen Fragestellungen aus Industrie und Gesellschaft zu arbeiten. Im Fokus der Designschule standen nun nicht mehr die Produkte, sondern der Mensch mit den sich verändernden Rahmenbedingungen im 21. Jahrhundert. Ziel der neuen Bildungseinrichtung war es, komplexe Probleme durch komplexe Lösungsansätze zu bewältigen. Interdisziplinäre Teams sollten ohne Hierarchien an der ›d.school‹ zusammenkommen und ihr Wissen aus den verschiedensten Disziplinen teilen. Für alle Ausarbeitungen stand nur eine Methode, die von David Kelley geprägt wurde, zur Verfügung: Design Thinking.

Hasso Plattner erkannte als Erster die Relevanz von Design Thinking als kreative Wertschöpfungskette zur Gestaltung von Innovations- und Zukunftsthemen: »Beim Design Thinking geht es darum, Probleme an ihrer Wurzel zu packen, statt nur einige der Symptome zu behandeln.« Seine Investition in Höhe von 35 Millionen US-Dollar führte die Schule nicht nur heraus aus einer alten Baracke und hinein in ein facettenreiches Laborgebäude, sondern es gelang ihm auch, das Schattendasein der ›d.school‹ hinter der Stanford University zu beenden. Die Anerkennung für das Hasso Plattner Institute of Design wuchs und selbst der Stanford-Präsident sprach eine persönliche Empfehlung für die Schule aus. Der wissenschaftliche Ritterschlag war erreicht.

Doch mit dem überlassenen Geld musste Kelley der SAP-Ikone auch ein Versprechen geben: Er sollte mit der deutschen Design School in Potsdam, die Plattner 2007 ebenfalls aus seinem Privatvermögen aufgebaut hatte, kooperieren. Natürlich wollte Kelley von Plattner wissen, warum er so viel Herzblut, Mühe und Geld in eine Methode steckte. Die Antwort fiel eindeutig aus: »I did this for Germany.« In persönlichen Gesprächen soll Plattner immer wieder erschrocken gewesen sein, dass die deutschen Fach- und Führungskräfte nicht besonders kreativ und risikobereit seien. Ganz nach der deutschen Tugend: Lieber verwalten, als gestalten.

Innovationsmanagement
Karl E. Weick, einer der weltweit renommiertesten Organisationsforscher, betrachtet Unternehmen als sinngebende Systeme, die stetig Realitäten aus Handlungen, Werten und Glaubenssätzen erzeugen. Die Mitglieder von Organisationen bestätigen das Ergebnis dieser Erzeugung sich selbst und anderen Mitgliedern gegenüber und erzeugen so ihre individuelle Version der Wahrheit und Richtigkeit. Dies beeinflusst ihr Verhalten und prägt somit die Unternehmenskultur. Karl Weick versteht unter Sinnstiftung weit mehr als eine bloße Interpretation. Nach seiner Auffassung erzeugt Sinnstiftung eine eigene soziale Realität. Er fasste seine Erkenntnis in einem Satz zusammen, der alles beinhaltet: »Leute wissen, was sie denken, wenn sie sehen, was sie sagen.«
Nach Weick findet Sinnerzeugung immer im Rückblick statt. Es ist ein unablässiges Zusammenweben von Sinn aus Glauben, Annahmen, Erzählungen, Regeln und den daraus resultierenden Handlungen. Einmal in Worte gefasst, verändern sich die Inhalte wieder, weil Worte nur unvollständige Container sind. So wird der sinnerzeugende Prozess über die Worte in eine andere Richtung gelenkt. Zudem wird die Sinnstiftung über die selektive Wahrnehmung noch weiter verändert, denn einzelne Teile der Wirklichkeit werden sehr unterschiedlich oder gar nicht wahrgenommen. In unserer Welt ist ein endloser Strom von sinnerzeugenden Begründungen entstanden, der nicht enden will. Deshalb müssen, nach der Überzeugung von Weick, in unserer fließenden und multimedialen Welt der kommunizierenden Röhren Festlegungen in Organisationen immer wieder neu begründet werden.

Mit dem Design-Thinking-Ansatz wollte er der Kreativwüste Deutschland neue Impulse geben. Und reimportierte eine Methode, die ihren Ursprung in Dessau genommen hatte. Denn die Wurzeln von Design Thinking sind in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Bauhaus zu finden. Der Architekt Walter Gropius versuchte die unterschiedlichen Disziplinen aus Kunst, Architektur, Gestaltung, Handwerk, Technik und Industrie zusammenzuführen, um gemeinsam komplexe Fragestellungen zu lösen. Die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk wurden aufgehoben und eine neue Leitidee geprägt: »Schön ist, was funktioniert.«

Diesen Grundgedanken nahm Hasso Plattner auf und erhob Design Thinking zur DNA seines IT-Konzerns. Seitdem wurden die internen Prozesse, die Beratung der Kunden und Kundinnen und selbst die Softwareentwicklung bei SAP auf Basis der Design-Thinking-Methode neu ausgerichtet. Schnell sprang der Funke auf die großen Unternehmen wie Deutsche Bank, Daimler und Telekom über. Sie meldeten ihre Manager und Managerinnen für Design-Thinking-Seminare an. Den Grund für den steigenden Bedarf nach Design Thinking fasste der SAP-Designchef in Palo Alto, Sam Yen, so zusammen: »Viele Konzerne müssen sich neu erfinden, fürchten aber, dafür nicht kreativ genug zu sein.« Der extreme Veränderungsdruck des 21. Jahrhunderts machte die Methode zu einem Erfolg. So wird Design Thinking häufig bei digitalen Transformationen zum Einsatz gebracht, um frühzeitig Schwachstellen zu erkennen und die verschiedenen Lösungsmodelle visuell darzustellen. Hasso Plattner hatte erkannt, dass man sehen muss, was man sagt, um zu verstehen, was man denkt. So verkauft SAP heute seine Software, die keiner anfassen kann. Nicht das Produkt, die Software, steht im Mittelpunkt, sondern die Problemlösung durch neue innovative Ideen. Digitale Transformation ist somit im ersten Schritt keine technische Leistung, sondern ein gruppendynamischer Prozess, durch den neue Sichtweisen und neue Handlungsansätze entstehen. Hasso Plattners kluge Investition ist heute ein Gewinn für Deutschland – und für SAP.

ZEHN REGELN FÜR DAS MANAGEMENT VON UNVORHERSEHBARKEITEN

Hinter der schönen Fassade von Rationalität befinden sich alle Unternehmen in einem permanenten Prozess von Subjektivität, unterschiedlichen Vorstellungen und ständiger Zufälligkeit. Alle Entscheider und Entscheiderinnen sind unsicheren, uneinheitlichen und sich stets verändernden Informationen ausgesetzt, daher hat Weick zehn Regeln für das Management von Unvorhersehbarkeiten aufgestellt, mit denen Unternehmer und Unternehmerinnen und Manager und Managerinnen sich selbst und ihre Organisation besser führen können:

UNORDNUNG ANNEHMEN.
Lassen Sie die Unordnung zu, denn es ist besser, die Informationen aufzunehmen, anstatt sie zu übersehen.
UNVOLLSTÄNDIGKEIT ERDULDEN.
Nichts können Sie jemals vollständig erledigen, denn alle beabsichtigten Wirkungen verursachen immer Nebenwirkungen.
CHAOTISCHE AKTIVITÄTEN ZULASSEN.
Besser Sie lassen chaotische Aktivitäten zu, denn Sinnstiftung entsteht immer aus Aktivitäten. Ordnungsgemäße Inaktivität erzeugt hingegen keinen Sinn.
UNSICHTBARES WICHTIG NEHMEN.
Entscheiden Sie sorgsam über Erhaltenswertes, denn in den Ablagen, Ordnern und Dateien Ihrer Organisation liegt die Grundlage für zukünftige Aktivitäten.
EINFACHE LÖSUNGEN VERWERFEN.
Bedenken Sie, dass es keine einfachen Antworten gibt, denn nichts ist vollständig richtig oder falsch. Die tolerable Vernunft sollte Sie leiten. Lernen Sie, vernunftorientiert zu improvisieren.
NUTZEN-DENKEN UNTERBINDEN.
Vermeiden Sie das vollständige Nutzen-Denken, denn eine perfekte Anpassung im Jetzt reduziert Ihre Optionen im Morgen. Eine gewisse Unordnung im System kann Ihnen Optionen für die Zukunft schaffen.
LANDKARTE DER ZUKUNFT VERANKERN.
Eine Landkarte aus Erfahrungshintergründen ist der beste Wegweiser für die Zukunft.
ORGANIGRAMME NEU DENKEN.
Lassen Sie sich nicht von einer statischen Organisationsdarstellung einfangen. Ordnen Sie neu, um die Wirkung der Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen für die Kundschaft zu erhöhen.
ORGANISATIONEN ALS EVOLUTIONÄRE SYSTEME VERSTEHEN.
Betrachten Sie die Entwicklungen am Markt und setzen Sie um, was getan werden kann.
ALTERNATIVEN BERGEN LÖSUNGEN.
Machen Sie sich selbst das Leben schwer, denn alternative und komplizierte Ansätze haben Lösungspotenzial. Man muss es nur zu genießen wissen.

Diese vom Organisationspsychologen, Karl E. Weick aufgestellten Regeln können als Fundament des Design-Thinking-Prozesses angesehen werden. Grundsätzlich gilt: Je komplexer ein Problem ist, umso größer sollte die Lösungsgleiche sein. Somit verschafft die Design-Thinking-Methode mit ihrer Multiperspektivität den Anwendern und Anwenderinnen gegenüber allen eindimensionalen Expertisen einen Vorsprung. Zudem handelt es sich bei Design Thinking um einen menschenzentrierten Innovationsprozess. Damit verschiebt sich der Fokus von den Dingen, die Menschen nutzen, zu dem, was ihre Bedürfnisse und Motivationen sind. Dabei sind Innovationen kein Zufall, sondern können geplant und mithilfe von gut entwickelten Prozessen innerhalb eines Unternehmens langfristig implementiert werden. Notwendig sind hierfür ein hohes Maß an Disziplin und die Bereitschaft, kontroverse Kommunikationsprozesse innerhalb der Organisation zuzulassen. Wer Innovationskraft in seinem Unternehmen erlangen will, sollte an neuen Lösungsansätzen interessiert sein und muss hierfür Möglichkeitsräume schaffen. Im Zentrum steht immer die Idee. Denn Kreativität ist das Gold des 21. Jahrhunderts.

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Dr. jur. Dr. phil. Niels H. M. Albrecht ist Experte der Aufmerksamkeitsökonomie. Seit mehr als 20 Jahren berät er Mandantinnen und Mandanten aus Regierung, Unternehmen, Stiftungen, Vereinen und Kirche. Nach dem Studium der Rechts- und Kommunikationswissenschaften war er als Journalist, Medienmanager und Unternehmensberater, unter anderem für die Bundesregierung, tätig. Als Leiter der DEACK − Deutsche Akademie für Change & Kommunikation gibt er sein Wissen in den Bereichen von Kommunikations-, Change- und Krisenmanagement weiter.

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