Sigmar Gabriel: „Corona ist ein Brandbeschleuniger“
Bundeswirtschaftsminister, Außenminister, Umweltminister, Vizekanzler – Sigmar Gabriel ist politisches Urgestein. Heute fungiert er unter anderem als Vorsitzender des Vereins Atlantik-Brücke und ist Aufsichtsrat der Deutschen Bank. In der Video-Konferenz „Re-Start Deutschland“ gab er seine Einschätzung der Lage.
In der Diskussion um die Pandemie stehen gesundheitliche Aspekte oft gegen wirtschaftliche. Provokant gefragt: Was ist wichtiger?
Gabriel: Diese Unterscheidung habe ich nie verstanden. Denn die beiden Bereiche lassen sich gar nicht trennen. Im Fall Corona haben wir unter anderem einen so guten Stand, weil unser Gesundheitssystem – bei aller berechtigten Kritik, die man daran üben kann – besser ist als das vieler anderer Länder. Das ist aber auch deswegen so, weil wir es uns leisten können, also weil wir eine starke Wirtschaft haben. Gute Gesundheitssysteme kosten natürlich Geld. Eine dauerhafte wirtschaftliche Schwächung Deutschlands würde sich deshalb natürlich auch auf die Qualität des Gesundheitssystems negativ auswirken. Die Kranken von morgen wären die Leidtragenden. Umgekehrt würde eine zu schnelle Öffnung von Wirtschaft und Gesellschaft die Gefahr beinhalten, dass wir eine zweite Infektionswelle haben. Die finanzpolitische „Bazooka“ zur Stabilisierung der Wirtschaft wäre dann aber leer und die Folgen für Unternehmen und Arbeitsplätze noch dramatischer als jetzt schon. Die Alternative entweder Gesundheit oder wirtschaftlicher Erfolg ist deshalb Unsinn. Gute Politik sucht nach der Balance und nicht das Entweder-Oder.
Das Besondere an der Krise ist, dass sie die ganze Welt betrifft, und damit auch die Weltwirtschaft. Vor Corona waren Liefer- und Wertschöpfungsketten global, kleinteilig und verzweigt. Wird sich das nun langfristig ändern?
Gabriel: In der Tat funktionieren die globalen Wertschöpfungsketten in dieser weltweiten Krise nicht mehr reibungslos, wir sehen Entkoppelungen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass die Globalisierung am Ende ist, aber es wird in Teilen tatsächlich eine De-Globalisierung geben. Zum einen durch den Digitalisierungsschub, den wir durch Corona erfahren haben. War es früher in jedem Fall wegen der Lohnkosten günstiger, etwa in Fernost produzieren zu lassen, ist das heute dank Digitalisierung und Automatisierung nicht mehr zwingend der Fall. Zum anderen werden wir nach der Krise sehen, dass Staaten wie die USA erst einmal „jobs at home“ fördern und im Zweifel noch protektinistischer werden. Das alles führt zu geringeren Risiken bei Pandemien, weil die nationalen Wirtschaften etwas resistenter gegen solche Krisen werden. Aber es macht die Weltwirtschaft auch weniger effizient Und die Leidtragenden werden zuallererst die ärmeren Länder der Welt sein, die Arbeitsplätze verlieren. Die Welt wird insgesamt ärmer werden und das spüren die Ärmsten der Armen besonders.
Stichwort Digitalisierung. Hat Deutschland mit der Krise einen echten „Boost“ erfahren?
Gabriel: Wenn Sie Homeoffice, digitale Meetings oder die Nutzung digitaler Techniken meinen, ja. Wir profitieren von digitalen Anwendungen. Diese kommen aber überwiegend aus den USA oder aus China, den großen Anbietern, deren Rivalität durch Corona noch angeheizt wird. Und die Amerikaner werden einfordern, dass wir uns entscheiden, mit wem wir technologisch gehen wollen. Gehen wir mit den USA, grenzen wir Huawei dann aus 5G aus? Als Folge könnte uns China den Zugang zu seinem Automobilmarkt erschweren. Das träfe uns weit mehr als die USA. Die unterschiedliche Haltung gegenüber China wird den Atlantik „breiter“ werden lassen und großen Konfliktstoff zwischen den USA und Europa mit sich bringen. Das sehe ich als eine der größten Herausforderungen der kommenden Zeit.
Was muss sich in Europa ändern, um mit den USA und China mithalten zu können?
Gabriel: Momentan ist Europa in der Technologieführerschaft bei digitalen Technologien einfach abgeschlagen, deshalb werden wir in dem Konflikt zwischen den USA und China schlicht nicht ernst genommen. Um das zu ändern, braucht es Investitionen, die möglicherweise auch aus dem Wiederaufbauprogramm der EU kommen könnten – für eine explizite Unterstützung der Technologieentwicklung. Das wäre ein großer Schritt nach vorn. Wir müssen aufpassen, dass unser gesamtes Geschäftsmodell nicht auf den Kopf gestellt wird. Seit 200 Jahren ist Deutschland „Master of Products“. Wir können Produkte zwar effizient entwickeln und vertreiben. Aber jetzt stellen wir auf einmal fest, dass ein nicht unerheblicher Teil der Wertschöpfung vom Produkt weg auf die Datenplattformen wandert. Diese beherrschen jedoch amerikanische und chinesische Unternehmen – und nicht deutsche. Und wenn wir nicht reagieren, geraten wir am Ende zur verlängerten Werkbank.
Wie wird sich die Coronakrise langfristig geopolitisch auswirken?
Gabriel: Gerade in ärmeren Ländern sieht es sehr schlecht aus. Sie wurden und werden von der Pandemie viel härter getroffen als Europa und vor allem Deutschland. Nicht nur wegen der schlechteren Gesundheitssysteme, sondern auch, weil Hunger droht. Das gilt besonders für Kinder, deren einzige Mahlzeit am Tag oft das Schulessen ist. Und in ehemals armen Ländern, in denen sich gerade eine neue Mittelschicht etablierte, bedeutet ein Rückfall in Armut oft Gewalt und damit die Gefährdung der Demokratie. Das höre ich vor allem von Kontakten in Lateinamerika. Überall auf der Welt wirkt Corona wie ein Brandbeschleuniger: Was vorher schon problematisch war, kommt jetzt richtig ans Licht. So wird der – wie ich ihn nenne – „Kalte Krieg 2.0“ zwischen China und den USA durch Corona verstärkt, ebenso wie die Konflikte im Nahen Osten. Nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die lokalen politischen und geopolitischen Folgen von Corona werden uns noch sehr lange beschäftigen.
Sigmar Gabriel Der 1959 geborene Gabriel ist seit 1977 Mitglied der SPD, deren Vorsitz er von 2009 bis 2017 innehatte. Er war niedersächsischer Ministerpräsident und ging 2005 in die Bundespolitik, aus der er sich 2019 zurückzog
Bei der Video-Konferenz „Re-Start Deutschland: Aufbruch aus der Krise“ diskutierten über Strategien für die deutsche Wirtschaft u.a der ehemalige Vize-Kanzler Sigmar Gabriel, Wirtschaftsminsterin a. D. Brigitte Zypries, KUKA-CMO Wilfried Eberhardt, Caffe-Cultura-CEO Cevdet Emeç, die Bundesvorsitzender der Jungen Unternehmer Sarna Röser, Yuanda-Robotics-CEO Dr. Jens Kotlarski oder Dr. Philipp Oleinek von EVOLUCONSULT.
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