Reformstau in modernen Demokratien: Warum schmerzhafte Reformen so schwer durchsetzbar sind
Europäische Demokratien sind zwischen ökonomischem Reformbedarf und populistischen Wählerbewegungen in ein gefährliches Spannungsfeld geraten. Immer seltener gelingt es Regierungen, notwendige Reformen durchzusetzen.
Von Professor Dr. h.c. mult Roland Koch
Gerade wagte Frankreichs Regierung unter Premierminister François Bayrou ein drastisches Sparpaket. Zwei staatliche Feiertage sollten abgeschafft werden, um die Wirtschaftsleistung zu steigern und rund 44 Milliarden Euro einzusparen. Das löste Entrüstung aus und brachte letztlich die Regierung zu Fall.
In Großbritannien ist die Labour-Regierung bereits in ihren eigenen Reihen an Reformen des Sozialsystems gescheitert.
In Deutschland wiederum werden selbst moderate Kürzungen reflexartig als ‚sozialer Kahlschlag‘ verurteilt – oder ihre Notwendigkeit kurzerhand als ‚Bullshit‘ abgetan.
Unpopuläre Maßnahmen kaum noch durchsetzbar
Dennoch: Moderne Demokratien stehen vor einem Reformstau. Immer seltener gelingt es Regierungen, notwendige Reformen durchzusetzen, wenn diese kurzfristig persönliche Belastungen für Bürger bedeuten. Obwohl sich viele einig sind, dass etwa Staatsfinanzen, Rentensysteme oder Verwaltungsstrukturen dringend angepasst werden müssen, stoßen Sparmaßnahmen, Leistungskürzungen oder Mehrbelastungen in paradoxer Weise auf erbitterten Widerstand. Warum sind unpopuläre, aber langfristig sinnvolle Reformen in modernen Demokratien mit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung so schwer durchzusetzen?
Zwar erkennen und publizieren viele Experten, dass der Wohlfahrtsstaat unter Druck steht. Alterung der Gesellschaft, Rekordausgaben für Rente und Gesundheit, drittes Rezessionsjahr in Folge, sind die Stichworte in Deutschland. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil warnte vor einer Haushaltslücke von 172 Milliarden € bis 2029. Dennoch scheinen Einschnitte ein politisches Tabu. Gerade die SPD tut sich nach schmerzhaften Erfahrungen schwer. Viele Parteimitglieder sind immer noch in dem Glauben gefangen, Gerhard Schröder habe mit den Hartz-Reformen die Regierung verloren, deshalb könne man keine Zumutungen in der Sozialpolitik verkraften. Das führt dazu, dass jeder Vorschlag zur Begrenzung der Sozialausgaben sofort als unsozial gebrandmarkt wird.
„Sollen doch die Reichen zahlen“
Die populärste, fast populistische Widerstandslinie lautet: „Sollen doch erst die Reichen zahlen“ bevor man dem Durchschnittsbürger etwas wegnimmt. Dieses Argument ist psychologisch verständlich, aber wirtschaftlich trügerisch, wie ein Blick nach Großbritannien zeigt. Die 2024 neu angetretene Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer erhöhte die Steuern für Spitzenverdiener erheblich – von höheren Einkommens- und Erbschaftssteuern bis zur Abschaffung eines Sonderstatus für Reiche ohne ständigen Wohnsitz in Großbritannien. Die Reaktion der so adressierten Kreise kam postwendend. Viele packten die Koffer. Allein 2024 sollen mehr als 10.000 Millionäre dauerhaft das Vereinigte Königreich verlassen haben, 157 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Schnitt kehrten täglich 30 wohlhabende Briten ihrem Land den Rücken, oft Richtung Monaco, Schweiz oder Dubai. Das bedeutet weniger Investitionen, weniger Jobs und der britische Fiskus verliert dadurch laut Schätzungen über 4,3 Milliarden Pfund Steuereinnahmen pro Jahr. Anstatt „die Reichen“ stärker zur Kasse zu bitten, trifft es nun vor allem den breiten Mittelstand, der nicht so einfach emigrieren kann. Ob es gefällt oder nicht, Vermögen sind mobil. England illustriert damit ein Kernproblem, die Abwägung Gerechtigkeitsempfinden vs. Effektivität. Das Gerechtigkeitsargument („erst die da oben“) genießt populäre Zustimmung, trägt aber allein keine Lösung für die Finanzierungsprobleme, zumal wenn die wirklich Vermögenden das Spielfeld verlassen.
Angst vor Verlust und Flucht in die Gerechtigkeitsdebatte
Einer der zentralen Gründe für die schnelle und sehr kraftvolle Ablehnung jedes Vorschlags, der eigene Belastungen zur Folge hat, liegt in der menschlichen Psychologie. Hier geht es besonders um den Begriff der „Verlustaversion“. Dieses Phänomen, von Nobelpreisträger Daniel Kahneman erforscht, besagt: Menschen empfinden einen Verlust etwa doppelt so stark wie einen gleich großen Gewinn. Mit anderen Worten, der Schmerz über weggenommene Vorteile überwiegt die Freude über mögliche Gewinne oder Verbesserungen. Übertragen auf die Politik heißt das, ein Feiertag weniger oder eine Kürzung der Rente wiegt in der Wahrnehmung der Bürger schwerer als zum Beispiel abstrakte langfristige Vorteile wie Schuldenabbau oder verbesserte Wettbewerbsfähigkeit. Zudem gehen wir alle oft auf Nummer sicher, wenn Ungewissheit im Spiel ist. So zeigen Umfragen paradoxe Ergebnisse: Zwar beklagen Bürger Missstände bei Rente, Krankenversicherung oder Bürokratie, aber konkrete Reformvorschläge dafür lehnen sie dann mehrheitlich wieder ab. Die Verlustaversion macht mutige Einschnitte politisch unattraktiv – das Risiko scheint größer als die Chance.
“Es sieht leider so aus, als sei in dieser Wahlperiode auch kein großer Reformschritt zu erwarten. Das muss nicht so sein. Wir sollten uns daran erinnern, dass stufenweise Bewegungen in die richtige Richtung in Deutschland bis vor kurzem möglich waren”
Eine weitere Hürde hatte die britische Regierung mit ihrer Reichensteuer adressieren wollen. Sie ist sozialer Natur. Viele Bürger akzeptieren Einschnitte nur, wenn sie als fair verteilt wahrgenommen werden, was selten so gesehen wird. In Zeiten wachsender gefühlter oder tatsächlicher Ungleichheit haben breite Bevölkerungsschichten den Eindruck, „die kleinen Leute“ sollen bluten, während Vermögende oder Politiker verschont bleiben. Jede Kürzung gilt sofort als unsozial und herzlos, unabhängig von der sachlichen Notwendigkeit. Gerade die Sozialen Netzwerke befeuern das.
Das tiefsitzende Unbehagen vieler Bürger hat also zwei Seiten. Einerseits die Angst, zu den Verlierern einer Reform zu gehören (siehe Verlustaversion), andererseits das Gefühl der Unfairness, wenn Lasten ungleich verteilt erscheinen. Zusammen erklären sie gut den aktuellen Zustand der Reformangst und Reformunfähigkeit. Die politische Rationalität in Demokratien belohnt daher das Aussitzen und Verteilen von Wohltaten, nicht das Zumuten von Opfern.
Den Teufelskreis durchbrechen
Kann Politik den Teufelskreis durchbrechen? Das wird zu einer zentralen Frage in marktwirtschaftlich orientierten Demokratien. Kein demokratisches Land kann es sich leisten, Reformen dauerhaft zu vermeiden, irgendwann zwingen Fakten zum Handeln – und dann oft unter noch ungünstigeren Bedingungen.
Wer aber den „Big Bang“ mit all seinen demokratischen Risiken vermeiden will, muss frühzeitig handeln. Gegen diesen Grundsatz hat die deutsche Politik in der Rentenpolitik schon lange verstoßen. Wäre es nach Ludwig Erhard gegangen, hätten wir das System so nie geschaffen. Es sieht leider so aus, als sei in dieser Wahlperiode auch kein großer Reformschritt zu erwarten. Das muss nicht so sein. Wir sollten uns daran erinnern, dass stufenweise Bewegungen in die richtige Richtung in Deutschland bis vor kurzem möglich waren. In Deutschland wurde 2007 beschlossen, den Rentenbeginn von 65 auf 67 zu erhöhen, jedoch verteilt über zwei Jahrzehnte bis 2029. So hatten alle Zeit, sich darauf einzustellen.
Persönliche Belastungen kann man abfedern, indem an anderer Stelle entlastet oder unterstützt wird. Wenn etwa Sozialleistungen gekürzt werden müssen, muss sich zugleich die Qualität erlebbar verbessern, etwa durch schnellere Behandlung. Auch Härtefall-Regelungen schaffen Akzeptanz. Die Kunst besteht darin, Reformpakete zu schnüren, bei denen Lasten und Nutzen sichtbar verteilt sind. Der langfristige wirtschaftliche Vorteil muss glaubhaft sein, die Abwägung von Vorteilen und Nachteilen muss Gegenstand der öffentlichen Debatte werden.
Mut und Führung
Schlussendlich geht es um Mut und Führung. Das ist in Koalitionsregierungen sehr viel schwerer, wenn die Koalitionspartner nur wenige fundamentale Übereinstimmungen teilen wie derzeit in Berlin. Dennoch wissen die Führungen der beiden Parteien sicher, dass sie eine eskalierende Katastrophe – sei es im Staatshaushalt, in den Sozialversicherungen oder bei den Jobs – nicht überstehen werden. Gemeinsam könnten die Parteien der ehemals großen Koalition sogar einen Kurswechsel hinbekommen: Die alles entscheidende Frage ist, ob beide rechtzeitig erkennen, dass weiteres Zaudern bestraft und nicht belohnt wird. Denn auch dieses Paradox gilt: Nur wenn die Koalition Kraft zu einschneidenden Veränderungen hat, wird die Zahl ihrer Wähler wieder zunehmen.
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Professor Dr. h.c. mult. Roland Koch ist seit November 2020 Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung. Koch war bis von 1999 bis 2010 Hessischer Ministerpräsident. Altbundeskanzler Ludwig Erhard gründete 1967 die Ludwig-Erhard-Stiftung und gab ihr die Aufgabe, für freiheitliche Grundsätze in Wirtschaft und Politik einzutreten und die Soziale Marktwirtschaft wachzuhalten und zu stärken. Die Stiftung ist von Parteien und Verbänden unabhängig und als gemeinnützig anerkannt. Sie tritt politischem Opportunismus und Konformismus mit einem klaren Leitbild entgegen: Freiheit und Verantwortung als Fundament einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für den mündigen Bürger. Infos






















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