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Türkei nach Erdoğan-Wahl: Für die EU ungeeignet
Die Türkei bleibt nach den Stichwahlen und dem Wahlsieg für Recep Tayyip Erdoğan tief gespalten in kemalistisch-demokratisch und islamisch-autokratisch. Er und die von ihm geführte islamisch-konservative AKP bleiben weiter politisch prägend. Wie könnte es nach den Wahlen weitergehen? Gibt es noch eine EU-Perspektive?
Von Stephan Werhahn und Ulrich Horstmann
Die Wahlen in der Türkei könnten das Land weiter von der EU zu entfernen. Die erhoffte „Zeitenwende“ in der Türkei blieb aus. Auch die Stichwahlen zeigten einen Wahlsieg für Recep Tayyip Erdoğan. Er und die von ihm geführte islamisch-konservative AKP bleiben damit weiter politisch prägend.
Der Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der kemalistisch ausgerichteten CHP hatte keine ernsthafte Chance. Das überraschte uns nicht. Die Staatsmedien lenken wie gewohnt die Bürger im Sinne Erdoğans. 90 Prozent der Medien kontrolliert Erdoğan. Das Ungleichgewicht von 9:1 im Fernsehen konnte Kılıçdaroğlu nicht wettmachen. Kılıçdaroğlu wurde in den Staatsmedien in die Ecke von Terroristen gestellt. Ohne freie Presse kommt er da nicht mehr heraus. Umso bedeutsamer ist, dass der Oppositionsführer trotz der einseitigen Berichterstattung im ersten Wahlgang am 14. Mai auf 44,9 % der Stimmen kam.
Die Deutschtürken stimmten klar für Erdoğan: In Deutschland gibt es 1,5 Mio. stimmberechtigte türkische Wähler. Bei ihnen verfängt die Propaganda ihres Herrschers offensichtlich besonders gut. 65,5% stimmten für Erdoğan, nur 32,5% für Kılıçdaroğlu. Das ist ein Warnsignal. Das Ergebnis lässt sich als eine Radikalisierung der Deutschtürken statt Integration interpretieren. Die Wähler an der Westküste der Türkei stimmten dagegen eher für Kılıçdaroğlu: In den kosmopolitisch geprägten liberaleren westlichen Küstenregionen der Türkei hatte der Herausforderer Kılıçdaroğlu seine Hochburgen.
Kein „Fest der Demokratie“
Erdoğan wird immer mehr zu einem diktatorischen Autokraten. Seine lange Amtszeit begünstigte das sicher. In den frühen Amtsjahren galt Erdoğan auch in westlichen Ländern als enger Partner. Schröder und Erdoğan kooperierten z.B. sehr eng (Vgl. dazu das lesenswerte Buch „Die Moskau Connection“ von Reinhard Bingener und Markus Wehner, S. 139, vor allem geht es um Schröders enges Verhältnis zu Putin). Trotz aller Kritik aus dem In- und Ausland ist Erdoğan im Land nach wie vor beliebt. Konservative Muslime verehren ihn trotz zunehmender Probleme. So sind die Wirtschaftsdaten ungünstig. Vor allem die hohe Inflation, der Wertverlust der Lira und die stagnierenden Einkommen sind herausfordernd. Sollte sich die Wirtschaft nicht wieder stärker erholen, werden die Spannungen im Land weiter zunehmen. In den ersten Amtsjahren konnte Erdoğan nicht zuletzt durch große Infrastrukturprojekte Erfolge vorweisen. Davon konnte er lange zehren, Demokratieabbau und wirtschaftliche Schwäche würde die Bevölkerung vermutlich auf Dauer nicht hinnehmen.
Die Wahl in der Türkei war u.E. kein „Fest der Demokratie“, wie Erdoğan feststellt. Erdoğan braucht keine Opposition mehr zu fürchten. Der Staatsapparat hat das Land weitgehend unter Kontrolle. Er reiht sich damit in eine breite Liga wichtiger Staatslenker ein. Nie waren die Demokratie und bürgerliche Freiheit wertvoller als heute. Uns ist zumindest keine Phase in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt, in der Totalitarismus in der Breite weltweit wieder eine Chance bekommt. Die Türkei ist mehr denn je gespalten zwischen Kemalisten, den Anhängern Kemal Atatürks, der nach dem Untergang des Osmanischen Reiches die Türkei nach westlichen Maßstäben reformierte und der islamisch-konservativen Ausrichtung, für die Erdoğan steht. Wenn das kemalistische Erbe wieder mehr Bedeutung in der Türkei hätte, würden sich auch die EU-Perspektiven wieder verbessern.
Folgende Kriterien wären für eine Aufnahme oder Ablehnung der Türkei als EU-Mitglied u.E. maßgeblich (1-10 Pkt.)
- Verfassung demokratisch? 4 von 10 Punkten
- Beachtung Menschenrechte? 3
- Beachtung Religionstoleranz? 3
- Toleranz für Kurden und Armenier? 2
- Medienfreiheit? Sind die Medien unabhängig? 1
- Rechtsstaatlichkeit? Sind die Gerichte unabhängig? 4
- Wirtschaftsverfassung, Marktwirtschaft? 3
- Brücke zu arabischen Ländern, Migrationsströme 5
- Kampf mit Griechenland, auch wegen Zypern 3
- NATO Mitglied oder Anlehnung an Russland, Iran? 3
- Anerkennung von Israel und Palästina? 3
Bei allen elf Kriterien ist die Türkei u.E. unterdurchschnittlich (34:11= 3,09) geeignet, EU-Mitglied zu werden. Interessanterweise waren die USA und Großbritannien schon viele Jahre für Aufnahme in die Europäische Union. Motive waren dabei
1.) das oben genannte Kriterium 10) und
2.) um die EU mit Konflikten aufzublähen und zu spalten.
Es gab übrigens immer seit vielen Jahren Artikel für die Aufnahme im „The Economist“. Das hat mich (Stephan Werhahn) als Christdemokrat und Abonnent immer sehr irritiert. Das zeigt, dass die USA und Großbritannien die Religion und Kultur eines Landes ihren militärischen und geostrategischen Interessen schlicht unterordnen.
Der Journalist und Türkei-Experte Peter Scholl-Latour empfahl dagegen der Türkei, nicht der EU-beizutreten. Wir gehen davon aus, dass er seine Meinung auch heute nicht verändert hätte.
Mit einer Reformpolitik des Kemalisten Kılıçdaroğlu hätte sich vielleicht eine EU-Perspektive ergeben. Für die Türkei, vor allem unter Führung von Erdoğan ist EU-Europa sicher keine Option mehr. Auch der Vorsitzende, der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, sprach sich nach der Wahl Erdoğans für einen Stopp des EU-Beitrittsprozesses mit der Türkei aus. Eine enge Partnerschaft sieht er aber weiter als wichtig an. Die Frage blieb offen, bei welchen Fragen Kooperationen noch möglich sind (zumindest bei der Sicherheits- und Migrationspolitik sollte das der Fall sein. Die Türkei ist Nato-Mitglied).
Wichtig ist, dass der Westen jetzt geschlossen bleibt
Auch die EU sollte mehr denn je kritischer prüfen, wer dazu gehört. Sie löst sich sonst nach und nach selbst auf. Sie importiert die Probleme des aufnehmenden Landes, auch die Zerrissenheit und Armut. Eine solche überdehnte EU ist nicht führbar. Die ursprüngliche europäische Gemeinschaft (1957) mit den Gründerstaaten Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten war noch übersichtlich. Die Länder waren sehr ähnlich und langjährig kulturell verbunden (christliches Abendland) und durch die Aufklärung geprägt. Mit immer mehr Mitgliedern über Westeuropa hinaus war die Gemeinschaft kaum mehr zusammenhalten.
Die Einführung des Euro hat die Zentrifugalkräfte noch verstärkt. Aus EU-Sicht müsste die Überdehnung gestoppt werden. Die Prioritäten müssen neu gesetzt werden. Auch mit dem Ukrainekrieg muss das Bewusstsein wachsen, das Sicherheit und Energiefragen wichtig sind. Der Westen darf sich nicht im Klein-klein verheddern (Genderfragen, leistungsfeindliches Quotendenken), vor allem müssen sich die politischen Spielregeln klar von Autokraten unterscheiden. Sonst droht auch im Westen über Umwege eine immer größere Korruption und Willkürherrschaft.
Nicht nur die Frage der politischen Kultur ist wichtig, sondern auch, ob die Länder gemeinsame kulturelle Werte vertreten. Ein Beitritt der Türkei ist auch vor diesem Hintergrund nicht sinnvoll. Europa würde noch mehr gespalten.
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Stephan Werhahn ist Gründer und Direktor des Instituts Europa der Marktwirtschaften (IEM) und Enkel Konrad Adenauers. Dr. Ulrich Horstmann ist Vorstand im Institut Europa der Marktwirtschaften, Buchautor und Publizist. Aktuelle Bücher des Autorenkollektivs „Ludwig Erhard jetzt!“ und „SOS Europa“. Unterstützt wird die Arbeit des IEM von Isabel Winter-Blümel.
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