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Wir haben aufgehört zu träumen
Reihe „Zeitenwende“ | Der Wohlstand unserer heutigen Gesellschaft basiert ganz entscheidend auf dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Der Traum von einer besseren Zukunft ist der Traum, die heutigen Grenzen zu überschreiten und bessere Verhältnisse zu schaffen, indem wir Dinge wieder anders tun.
Bisher in der Reihe „Zeitenwende“ erschienen:
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- Anna Schneider: Freiheit
- Prof. Dr. Dr. Hermann Simon: Geschäftsmodell
- Reinhold Messner: Verzicht
- Dr. Jörg Haas: Digitalisierung
- Professor Dr. Ulrich Walter: Wissenschaft
- Professor Dr. Bettina Büchel: Kooperationen
- Frank Dopheide: Führung
- Dr. Daniel Stelter: Realitätssinn
- Yasmin Weiß: Bildung
- Marie-Christine Ostermann: Unternehmertum
- Milosz Matuschek: Jugend
- Marc Müller: Zukunftsfähigkeit
- Carsten Linnemann: Föderalismus
- Hauke Burkhardt: Rohstoffe
- Manfred Deues: Technologie
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Von Professor Dr. Ulrich Walter
Wir alle haben Träume. Träume und Neugier sind die entscheidenden Antriebe unseres Tuns. Als Mr. Spock gefragt wurde, warum die Menschen trotz aller Gefahren in den Weltraum fliegen, antwortete er schlicht: »Neugier, nichts als schiere Neugier.« Die 1960er- und 1970er-Jahre waren voller Träume und Neugier. Unsere Gesellschaft wurde damals auf den Kopf gestellt. Wir taten Dinge, die so ganz anders waren. Wir waren diejenigen, vor denen uns unsere Eltern gewarnt hatten: Rockmusik, lange Haare, Leben in Kommunen. Wir träumten und hatten damit die Zukunft in unseren Händen. Aber das betraf nicht nur die Jugend. Nach und nach wurde die ganze Gesellschaft von diesem Traum, mehr zu erreichen, indem man Dinge eben einfach anders macht, infiziert.
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Der Aufbruch in den Weltraum und der Flug zum Mond waren Massenereignisse aller Weltbürger. Herztransplantationen, Autos als Zeichen von Lebensfreude, Telefon, Fernsehübertragungen durch Fernsehsatelliten, Video- und Telekonferenzen usw. Zudem schmolz die Welt damals zusammen. Es gab eine globale Aufbruchstimmung mit dem gemeinsamen Traum einer besseren Zukunft durch Gleichheit und technischen Fortschritt. Das bewegte die Menschen bis in die Mitte der 1980er-Jahre.
Seitdem sind wir ängstlicher um unsere Zukunft geworden. Ich wage eine Erklärung: Wir sind alt und satt. »Besitzstandswahrung« (welch ein gestelztes Wort, das es nur im Deutschengibt) hat um sich gegriffen. Um Gottes willen, bitte keine Veränderungen! Alles soll so bleiben, wie es ist. Wir träumen nicht mehr von einer besseren Zukunft, sondern ergötzen uns an unserer angeblich großartigen Vergangenheit und identifizieren uns mit ihr. Deutschland, das Land von Bach, Bier und Beethoven. Museen schießen in Deutschland wie Pilze aus dem Boden. Ihre Zahl hat sich seit den 1980er-Jahren auf etwa 6000 verdoppelt. Unser wohlgemeinter Humanismus, basierend auf alten griechischen Wertvorstellungen, lässt uns nur noch zurückschauen und nicht nach vorn.
„Wir, und insbesondere unsere Jugend, sollten uns um unsere Zukunft sorgen, denn wir werden den Rest unseres Lebens darin verbringen“
Hermann Oberth (1894–1989), der Vater der deutschen Raumfahrt, drückte es einmal so aus: »Meine humanistische Ausbildung erinnert mich an einen Autofahrer, der nach vorn nur ganz schwache Lichter hat, der dafür aber den Weg hinter sich mit Schweinwerfern taghell beleuchtet.« Unterricht in Physik und Biologie (Unterricht in Technik und Handwerk findet sowieso nicht statt, weil seit den Griechen vom Humanismus geächtet) wird geopfert für Latein. Latein! Wer zum Teufel braucht heute noch Latein?
Wir, und insbesondere unsere Jugend, sollten uns um unsere Zukunft sorgen, denn wir werden den Rest unseres Lebens darin verbringen. Und »Die Antworten zu unseren Problemen kommen aus der Zukunft und nicht von gestern«, so Frederic Vester (1925–2003), Biochemiker und Mitglied des Club of Rome. Wir können unsere Welt verbessern. Die entscheidenden Mittel dazu waren und sind Wissenschaft und Technik. Der Wohlstand unserer heutigen Gesellschaft basiert ganz entscheidend auf dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Wie sähe unser Leben aus ohne Handys, Flugzeuge, Fernsehsatelliten, Autos … you name it? Der Traum von einer besseren Zukunft ist der Traum, die heutigen Grenzen zu überschreiten und bessere Verhältnisse zu schaffen, indem wir Dinge wieder anders tun.
»Fortschritt ist nur möglich, wenn man intelligent gegen die Regeln verstößt« (Boleslaw Barlog, 1906–1999, Regisseur und Intendant). Aber in unserer gänzlich verriegelten Welt, wer erlaubt sich da noch, intelligent (und dies ist der zentrale Punkt) gegen Regeln zu verstoßen? Gerade wir Deutschen! Andere Nationen können nur über uns schmunzeln, wenn wir sonntagnachts eine leer gefegte Straße überqueren wollen und geduldig warten, bis die Fußgängerampel nach Minuten auf Grün schaltet.
Es geht darum, in uns wieder die Freude zu erwecken, hinter die Dinge zu sehen, sie verstehen zu wollen – und damit vielleicht anders zu machen, für eine bessere Zukunft. Es gibt da aber eine untere Grenze der Einfachheit. Einstein hat dies in seinem unnachahmlichen Humor einmal so formuliert: »Eine Theorie sollte so einfach wie möglich sein, jedoch nicht einfacher.«
Wer verstehen will, muss neugierig sein und träumen können. Das sind im Wesentlichen die Triebfedern für den Fortschritt unserer Zivilisation. Lassen Sie uns wieder neugierig sein und träumen!
- Der Schlüssel lautet „weltbeste Bildung“
- Bildung muss differenzieren, nicht gleichschalten
- Deutschland verdummt
Prof. Dr. Ulrich Walter ist Diplom-Physiker und Wissenschaftsastronaut. Walter brach zusammen mit sechs anderen Astronauten Ende April 1993 an Bord des Space Shuttles Orbiters Columbia in Richtung Erdumlaufbahn auf. Seit März 2003 leitet er den Lehrstuhl für Raumfahrttechnik an der Technischen Elite-Universität München und lehrt und forscht im Bereich Raumfahrttechnologie und Systemtechnik.
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