Wachstumspotential, aber zu wenig Fachkräfte in Mittel- und Osteuropa
Das Wachstumspotenzial in Mittel- und Osteuropa (MOE) für deutsche Unternehmen ist erheblich; es fehlt jedoch an qualifizierten Fachkräften. Die Ausbildung im Betrieb ergänzt durch die Berufsschule (duale Ausbildung) ist in der Region noch wenig etabliert, und entsprechende Strukturen fehlen oft.
Gerade die deutschen Familienunternehmen machen schon viel, können ihre Aus- und Weiterbildung dort jedoch noch ausbauen. Dies gilt sowohl für den Umfang als auch für die Organisation vor Ort. Das verdeutlicht die neue Studie „Duale Ausbildung und Weiterbildung in Mittel- und Osteuropa“ der Stiftung Familienunternehmen. Sie untersucht erstmalig, wie sich Familienunternehmen in der Region als Ausbildungsbetriebe engagieren, und gibt Handlungsempfehlungen.
Die Forscher der Universität Bremen unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Gessler haben dafür sieben Länder analysiert, die für die deutsche Außenwirtschaft wichtig sind: Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Serbien. Allein in diesen Ländern sind 4.520 Niederlassungen deutscher Unternehmen mit insgesamt über 1,4 Millionen Beschäftigten tätig. Zusätzlich führten die Forscher empirische Befragungen bei 193 deutschen Familienunternehmen durch. Die Ergebnisse zeigen, dass etwa 90 Prozent von ihnen Probleme haben, Mitarbeiter mit den gesuchten Qualifikationen auf dem örtlichen Arbeitsmarkt zu finden. Anhand von Unternehmensbeispielen wie Gühring (Polen), Mubea (Tschechien) oder Festo (Ungarn) liefert die Studie zusätzlich detaillierte Einblicke, wie duale Ausbildungsstrukturen in diesen Ländern etabliert werden können.
Mehr Kooperationen und europäisches Denken
Die Forscher formulieren neun konkrete Handlungsempfehlungen, um die berufliche Aus- und Weiterbildung in MOE aufzuwerten und attraktiver zu machen. Sie plädieren dafür, dass Bildungsministerien in Deutschland und MOE künftig miteinander kooperieren. Auch die Unternehmen sollten stärker zusammenarbeiten. Auszubildende sollten die Chance erhalten, im Ausland zu hospitieren, beispielsweise im Mutterunternehmen in Deutschland. Adressaten der Empfehlungen sind neben den Familienunternehmen selbst die Bildungsministerien, Wirtschafts- und Sozialpartner, Auslandshandelskammern und Berufsschulen in MOE.
„Die Region Mittel- und Osteuropa hat für die deutsche Wirtschaft eine herausragende Bedeutung. Das zeigt schon die Rangfolge unserer Handelspartner im Außenhandel: Wir importieren mehr aus Polen als aus Frankreich oder Italien. Und wir exportieren mehr nach Tschechien als nach Spanien oder Schweden“, sagt Professor Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen. „In Mittel- und Osteuropa mangelt es jedoch an Fachkräften. Deutsche Familienunternehmen engagieren sich bereits, aber die Aus- und Weiterbildung vor Ort muss dringend gestärkt werden. Das ist ein Gewinn für die Arbeitsmärkte Europas.“
Großes Engagement deutscher Familienunternehmen
Die Befragung der 193 Unternehmen zeigt, dass 73,6 Prozent davon vor Ort ausbilden, unter anderem auch, um gesellschaftliche und soziale Verantwortung zu übernehmen. Bis Ende 2023 wird diese gute Quote voraussichtlich auf 89 Prozent ansteigen. Über 70 Prozent der Unternehmen nehmen sich darüber hinaus für die kommenden Jahre eine deutliche Steigerung ihres Engagements im Bereich der Weiterbildung vor.
Seit über 20 Jahren bestehen in Europa Zielvereinbarungen, um einen „europäischen Berufsbildungsraum“ zu schaffen. Diese haben in den letzten zehn Jahren ihre Wirkung insbesondere in sechs der sieben untersuchten Länder in Mittel- und Osteuropa gezeigt. Denn in Ungarn, Bulgarien, der Slowakei, Polen, Rumänien und in Serbien wurden Gesetze zur dualen Ausbildung geschaffen oder Gesetze angepasst. In Tschechien fehlen umfassende Reformen noch.
Die neun Handlungsempfehlungen der Studie
1. Handlungsempfehlung: Berufsbildungskooperationen und MOE-Förderprogramm
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert weltweit Innovations- und Entwicklungsprojekte in der beruflichen Bildung. Projekte in MOE stellen bislang allerdings eher eine Ausnahme als eine Regel dar, weshalb das BMBF multi- beziehungsweise binationale Berufsbildungskooperationen einerseits reaktivieren (Slowakei) und andererseits aufbauen (Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Serbien) sollte, um sodann gemeinsame Forschungsund Entwicklungsprojekte – beispielsweise zur Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften in den in dieser Studie identifizierten Mangelberufen in MOE mit Akteuren aus MOE und Deutschland (z. B. Bundesinstitut für Berufsbildung) initiieren zu können.
2. Handlungsempfehlung: Wirtschafts- und Sozialpartner
Die Wirtschafts- und Sozialpartner erfüllen in den schulbasierten Lehrlingssystemen in MOE seit Einführung der dualen Ausbildung zentrale Funktionen (z. B. Beratung des Umfangs und der Art des schulischen Angebots). Das internationale Potenzial der deutschen Wirtschafts- und Sozialpartner, der Auslandshandelskammern sowie die bestehenden Förderinstrumente des BMBF sollten zum Ausbau einer grenzüberschreitenden bedarfsorientierten Zusammenarbeit mit den Wirtschafts- und Sozialpartnern in MOE genutzt werden.
3. Handlungsempfehlung: Lernortkooperation
Die deutschen Familienunternehmen in MOE sollten Lernortkooperationen (z. B. gegenseitige Information über Inhalte und zeitliche Planung von betrieblichem Ausbildungsplan und schulischem Lehrplan, Durchführung von lernortübergreifenden Projekten und/oder Erkundungsaufträgen, Praktika von Lehrkräften im Ausbildungsbetrieb) mit ihren berufsbildenden Schulen und weiteren beteiligten Bildungseinrichtungen vor Ort auf- und ausbauen.
4. Handlungsempfehlung: Curriculumreform und -entwicklung
Der schulische Berufsschulunterricht sollte sich an beruflichen Handlungs- und Lernfeldern orientieren und nicht am Fächerprinzip. In den schulischen Curricula sollten Handlungs- und Lernfelder in Bezug auf das Arbeiten in einer internationalen und digitalisierten Arbeitswelt (z. B. „internationale Projektarbeit“, „Digitalisierung der Arbeit, Datenschutz und Informationssicherheit“) berücksichtigt werden. Handlungsorientierte Curricula fördern komplementär einen handlungsorientierten Unterricht zur Entwicklung sogenannter 21st Century Skills (u. a. Kommunikation, kritisches Denken, Kooperation).
5. Handlungsempfehlung: Regionale Akteursnetzwerke
In Akteursnetzwerken können Berufsbildungsaufgaben in einer Region von den ausbildenden Familienunternehmen gemeinsam angegangen werden, wie zum Beispiel Werbung und Ansprache der Jugendlichen/Eltern, Verbesserung der Ausstattung der Berufsschulen, gemeinschaftliche Ausbildung im Verbund, strategische Planung der Lernortkooperation, bildungspolitische Mitarbeit, zum Beispiel in Sector Skills Councils. In einer weiteren Stufe können die Akteursnetzwerke durch den Einbezug von Bildungseinrichtungen, Forschungszentren, Entwicklungsagenturen und Arbeitsvermittlungen zu regionalen Innovations- und Kompetenzökosystemen ausgebaut werden.
6. Handlungsempfehlung: Lernmobilitäten
In MOE nehmen bislang nur 5 bis 8 Prozent der Auszubildenden an einer Lernmobilität teil. In Deutschland sind es ebenfalls nur circa 8 Prozent, wobei die Lernaufenthalte in der Regel nicht in MOE erfolgen. Faktisch existiert bislang keine nennenswerte Lernmobilität von Auszubildenden zwischen MOE und Deutschland, eine Tatsache, die aufgrund der hohen wechselseitigen wirtschaftlichen Bedeutung überrascht. Die deutschen Familienunternehmen könnten und sollten ihre Präsenz in MOE und Deutschland nutzen und die Lernmobilität der Auszubildenden zu einem Kernbestandteil ihrer Berufsausbildung machen, in MOE und in Deutschland, wobei verschiedene Mobilitätskooperationen möglich sind: Betrieb (MOE) mit Betrieb (Stammhaus D) und/oder Berufsschule (D) sowie Berufsschule (MOE) mit Betrieb (Stammhaus D) und/oder Berufsschule (D). Zudem könnten die Familienunternehmen Kontakte zwischen Berufsschulen in MOE und in Deutschland vermitteln. Mobilität fördert die Internationalisierung und die Attraktivität der Berufsausbildung. Profitieren würden hiervon neben der Berufsausbildung in MOE auch die duale Berufsausbildung in Deutschland, deren Internationalisierung noch wenig entwickelt ist.
7. Handlungsempfehlung: Job Shadowing und Training
Durchschnittlich sind über 50 Prozent der Lehrkräfte in MOE über 50 Jahre alt. Sie wurden „educated and trained at a time when teaching emphasised a very different approach, focused on memorisation and knowledge transfer.” (OECD, 2020c). Mittels grenzüberschreitender Mobilität im Rahmen eines Job Shadowing Programms können Lehrkräfte aus MOE handlungsorientierte Formen des Unterrichtens in einer deutschen Berufsschule kennenlernen. Dieser Austausch könnte den Nukleus einer grenzüberschreitenden Community of Practice bilden. Ergänzend hierzu sind handlungsorientierte Weiterbildungsformate vor Ort erforderlich.
8. Handlungsempfehlung: Kompetenzwettbewerbe
Medienwirksame nationale, europäische und internationale Kompetenzwettbewerbe haben das Potenzial, die Wahrnehmung und Attraktivität von Berufsbildung zu erhöhen. Im Stammhaus und in den Niederlassungen der Familienunternehmen vor Ort sollten Teams (Auszubildende, Ausbilderinnen/Ausbilder, Lehrkräfte) aufgebaut werden, sodass diese sich an nationalen, europäischen (EuroSkills) und gegebenenfalls internationalen Kompetenzwettbewerben (WorldSkills) beteiligen können. Die Vorbereitung könnte auch länderübergreifend erfolgen und Anlass für eine Lernmobilität bieten.
9. Handlungsempfehlung: Dualität Plus
Alternierendes Lernen im Rahmen des dualen Prinzips ist im Bereich der dualen Ausbildung in MOE verankert (mit der Ausnahme Tschechien). Darüber hinaus finden sich erste Ansätze in Polen, Tschechien, Bulgarien und Serbien, dieses Prinzip in die Hochschulausbildung zu übertragen (duales Studium). Anwendung findet es in MOE allerdings noch nicht in der beruflichen Weiterbildung und auch noch nicht in der orientierenden vorberuflichen Bildung. Zudem stellt die Förderung und Intensivierung der Berufsorientierung in der Allgemeinbildung eine Ressource dar, um Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter über eine anschließende Berufsausbildung überhaupt rekrutieren zu können. Das die Alternanz ermöglichende Grundprinzip „Kooperation“ sollte in allen Berufsbildungsphasen (Berufsorientierung, Ausbildung, Studium, Weiterbildung) zum Grundprinzip werden, und das sowohl institutionenübergreifend (z. B. duale Ausbildung, duales Studium) als auch innerhalb der Institutionen (z. B. professionelle und interprofessionelle Kooperation von Lehrkräften).
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Die gemeinnützige Stiftung Familienunternehmen ist der bedeutendste Förderer wissenschaftlicher Forschung rund um Familienunternehmen. Sie ist Ansprechpartner für Politik und Medien in wirtschaftspolitischen, rechtlichen und steuerlichen Fragestellungen. Die 2002 gegründete Stiftung wird mittlerweile getragen von über 500 Firmen aus dem Kreis der größeren deutschen Familienunternehmen. www.familienunternehmen.de
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