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Es gibt ihn, den Moment X für das eigene Unternehmen
Auch und gerade Weltmarktführer müssen sich neu erfinden. Was der Mittelstand vom Silicon Valley lernen kann und warum Ambidextrie – Beidhändigkeit – ein typisches Dilemma etablierter Unternehmen lösen kann.
Von Dr. Gunther Wobser
Unser familiengeführtes Unternehmen LAUDA ist ein typischer „Hidden Champion“. Müsste ich dies nicht erklären, wäre die Bezeichnung wohl ad absurdum geführt. Unser Unternehmen zählt derzeit zum Kreis von mehr als 1.000 mittelständisch geprägten Weltmarktführern mit Sitz in Deutschland. Firmen wie LAUDA leisten einen – vielleicht den – entscheidenden Beitrag zum anhaltenden Exportboom der Bundesrepublik. Und dies, ohne dass die deutsche Öffentlichkeit davon groß Notiz nimmt oder von unserer globalen Spitzenposition weiß.
Doch Unternehmen haben kein ihnen in die Wiege gelegtes Recht, für immer erfolgreich Bestand zu haben.
Als mein Großvater Dr. Rudolf Wobser nach seiner Flucht aus der DDR im Jahr 1956 in Lauda – heute ein Ortsteil der Stadt Lauda-Königshofen – die gleichnamige Firma gründete, gab es weder den Begriff „Hidden Champion“ noch ein Ansinnen seinerseits, irgendwann Weltmarktführer zu werden. Wie bei den meisten mittelständischen Familienunternehmen hat sich die Erfolgsgeschichte von LAUDA über die Jahrzehnte aus einer Abfolge von Entscheidungen ergeben, die man im Nachhinein betrachtet als sinnvoll bezeichnen darf. Mit einem einjährigen Besuch im Silicon Valley wollte ich daran anknüpfen und mich bewusst mit den wichtigen Entscheidungen für die Zukunft beschäftigen.
Innovationen sichern das Überleben
Wie schafft man es, als Unternehmen mit Tradition zu überleben? Wie können Innovation und Disruption gleichermaßen auf dem Kompass erscheinen? Ich habe an der eigenen Geschichte unseres Unternehmens erlebt: bisherige unternehmerische Praxis und neuartige Technologie müssen ebenso Hand in Hand gehen wie Produktentwicklung und Technologie-Scouting. Ich lernte außerdem, wie wettbewerbsentscheidend die richtige, kundenbezogene Innovation ist und wie schnell etablierte Unternehmen sich auf ihre vorherrschende Technologie konzentrieren und so sogar von der Bühne verschwinden können.
„Wie können Firmen über Generationen hinweg überleben? Wie haben sie es in der Vergangenheit getan? Meine Antwort: Sie innovieren ständig, ohne ihre Kernkompetenzen zu vernachlässigen“
Sehen Sie sich doch einmal die Fortune-500-Liste, die regelmäßig erscheinende Aufstellung der 500 umsatzstärksten Unternehmen der USA, aus dem Jahr 2010 an: 35 Prozent der Firmen gibt es nicht mehr. Auch in Deutschland werden Unternehmen laut Creditreform durchschnittlich gerade einmal volljährig, nach 18 Jahren sind sie meist verschwunden. Das jedoch widerstrebt den gelernten Zielvorgaben eines Mittelstandsunternehmens. Hier wird nicht an 18 Jahre gedacht. Auch nicht an fünf Jahre, um es dann wie ein Start-up gewinnbringend zu verkaufen. Der Anspruch ist vielmehr, das Unternehmen an die nächste Generation weitergeben zu können. Wie können diese Firmen über Generationen hinweg überleben? Wie haben sie es in der Vergangenheit getan? Meine Antwort: Sie innovieren ständig, ohne ihre Kernkompetenzen zu vernachlässigen. Weil sie aktuelle Veränderungen und Strömungen antizipieren – und idealerweise mitgestalten und prägen.
Mein Großvater hat durch seinen Pioniergeist den Erfolg unseres Unternehmens begründet: Als Erstem gelang es ihm, ein Gerät zur Erzeugung konstanter Temperaturen in Serie her zustellen. Innovation hat uns das Überleben über die Jahrzehnte gesichert. Aber mit der zunehmenden Größe schwindet die Agilität und damit auch die Innovationsgeschwindigkeit. Als mehrfach prämierter Weltmarktführer steht man sich manch mal selbst im Weg. Gefährlich wird das Verharren auf Erreichtem und das Wiegen in vermeintlicher Sicherheit.
„Wie können wir unser Unternehmen aus dem maschinellen Zeitalter in die digitale Ära führen?“
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Wie also stehen wir zu diesen Herausforderungen, zu diesen Herausforderern? Wie können wir unser Unternehmen aus dem maschinellen Zeitalter in die digitale Ära führen? Am liebsten wäre es uns selbstverständlich, wenn im eigenen Unternehmen die großen Chancen gesehen würden und werden. Aber wer die mangelnde Innovationskraft in Mittelstandsunternehmen nüchtern konstatiert und vorwurfsvoll beklagt, versteht nicht die Spannungsfelder: zwischen Tagesgeschäft und Strategie, zwischen Kern und Zukunft, zwischen festen, zu erfüllenden Aufgaben und neu geschaffenen, noch auszufüllenden Funktionen. Im Fall unserer Peltier-Technik musste ich zudem feststellen, dass unsere Anstrengungen auch deshalb eher halbherzig verliefen, weil es uns für diesen Kraftakt schlichtweg an den nötigen Kapazitäten mangelte.
Für ein bestehendes Unternehmen sind die Grenzen oft fließend. Wann geht es um disruptive Technologien, wann um solche, die das Überleben sichern, weil sie bestehende Produkte signifikant verbessern? Diese Unterscheidung, die im Silicon Valley so fein säuberlich gezogen wird, kann so haarscharf nicht immer getroffen werden. Abseits des Kerns neue Geschäftsfelder zu erschließen – dies ist ein Unterfangen, das zumeist durch verschiedene Faktoren erst beschleunigt wird, etwa durch einen neuen Wettbewerber, durch neue technologische Entwicklungen, aber auch durch neue Bedürfnisse. Zunächst jedoch bewegt sich ein Unternehmer in seinem Kern. Mit seiner Belegschaft, seinen Produkten, die im Moment Bestand haben.
Dabei sprechen alle von Innovation. Diese findet aktuell bei uns vorrangig im Kerngeschäft statt. Die tatsächlich großen Themen sind aber Software, Künstliche Intelligenz und komplett neue Anwendungsfelder. Es gibt eine klare Verschiebung zu Daten und Software. Wer jemals ein Tesla Elektroauto gefahren ist, versteht: Da wird ein traditionelles, gelerntes Produkt mit Daten und Technologie stetig verbessert. Ich besitze zwar kein eigenes, persönliches Auto mehr, aber das letzte, das ich leidenschaftlich fuhr, war ein Tesla. Jeden Morgen bestaunte ich die neuen Funktionen, die über Nacht aufgespielt worden waren. Und jedes Mal, wenn ich aus der Garage zur Arbeit fuhr, fragte ich mich: Wie können diese Technologien unser Unternehmen revolutionieren und so nach vorne bringen? Oft fühlt sich diese Frage quälend an, wie eine Aufgabe, die ungelöst bleibt, Tag für Tag. Aber wer sich dem stellt, der hat sich schon einmal auf den Weg gemacht. Der berühmte Unruhezustand ist eingetroffen.
Exit aus den Dilemmata
Veränderung ist die einzige Konstante. Und die Fähigkeiten, durch diese hindurch zu navigieren, sind vor allem geprägt von Flexibilität, Adaptabilität und dem Konzept der Ambidextrie oder Beidhändigkeit. Es fasziniert mich, auf diese Weise einem Gefühl von Zerrissenheit und dem Druck zu begegnen, man müsse sich für das eine oder das andere entscheiden – für Kerngeschäft oder Start-up, für Alltag oder Innovation. Sich beidhändig aufzustellen, etwas mit links wie mit rechts machen zu können, ist eben etwas anderes als „alles unter einen Hut zu bringen“.
„Das Kerngeschäft ist eben immer näher als die Innovation, weshalb ersteres stets die Überhand habe. Wenn in Zeiten bevorstehender Krisen echte Innovationskraft gefragt ist, kann sich diese strukturelle Gewichtung fatal auswirken“
Gleichermaßen ist dies Unternehmen und ihren Akteuren abzuverlangen. „Um über lange Zeiträume hinweg erfolgreich zu sein, müssen Manager und Organisationen ‚ambidextrous‘, also beidhändig sein – fähig, sowohl inkrementelle als auch umwälzende Veränderung zu implementieren“, konstatieren die beiden Wissenschaftler Michael L. Tushman und Charles A. O’Reilly 1996. Geprägt hatte den Begriff der Ambidextrie als Grundeigenschaft langfristig erfolgreicher Unternehmensführung bereits 20 Jahre zuvor der Wissenschaftler Robert B. Duncan in seinem Aufsatz „The Ambidextrous Organization“. Unternehmen bräuchten sowohl „Exploration als auch Exploitation“, um ihren Lernprozess effizient und effektiv zu machen, führte James Gardner March Anfang der 1990er-Jahre die Idee fort. Dem setzte Eric Zabiegalski in „The Rise of the Ambidextrous Organization“ entgegen: „exploitation drives out exploration.“ Das Kerngeschäft ist eben immer näher als die Innovation, weshalb ersteres stets die Überhand habe. Wenn in Zeiten bevorstehender Krisen echte Innovationskraft gefragt ist, kann sich diese strukturelle Gewichtung fatal auswirken. Echte Ambidextrie hingegen bedeutet, gleichsam kreativ und adaptierfähig sowie in der Lage zu sein, das tägliche Geschäft nach traditionellen Methoden weiterzuführen und für beides das nötige Lernumfeld zu schaffen. Dafür führt Zabiegalski spannende Beispiele aus Physik, Biologie und den Neurowissenschaften an.
Dass Unternehmen damit auch sich widersprechende Dinge umsetzen können, etwa kurzfristige Maßnahmen zur Verteidigung einer führenden Position im Markt wie langfristiges Wachstum in neuen Segmenten, ist eine der wichtigsten Facetten dieser organisatorischen Ambidextrie. Solche Unternehmensstrukturen schafften es, simultan entgegengesetzte Prozesse und Kulturformen aufzufangen und zu vereinen, und zeigten damit, dass ihnen „Effizienz, Beständigkeit und Verlässlichkeit ebenso inhärent sind wie Experimentierfreude, Improvisation – und pures Glück“, wie Tushman und O’Reilly schreiben.
Genug Motivation also, das eigene Unternehmen zu Strukturen und Kultur zu verhelfen, die Gleichzeitigkeit ermöglichen. In einer meines Erachtens nach bemerkenswerten Abschlussarbeit lieferte die Untersuchung Maximilian Venohrs, dessen Vater Prof. Dr. Bernd Venohr intensiv zu Eigenschaften und Facetten von Weltmarktführern geforscht hat, den ersten Status quo. Er überprüfte LAUDA auf seine Fähigkeit zur Ambidextrie hin und folgte dabei den von Eric Zabiegalski unterschiedenen Ambidextrieformen „strukturell“, „kontextuell“ und „sequenziell“. LAUDA bescheinigte die Untersuchung eine etablierte strukturelle Ambidextrieform. Eine sequenzielle Ambidextrieform, also den temporären Wechsel in der Organisationsstruktur, etwa von einer freien „Initiation“ zu einer strukturierten „Implementation“, konnten wir noch nicht zum Ausdruck bringen. Dies liegt nach meiner Meinung daran, dass sich hier unsere Ambidextriebemühungen noch in einer zu frühen Phase befinden. An der Abfolge, wie wir sie uns vorgenommen und eingesetzt haben, ändert dies nichts, ebenso wenig an der Entscheidung, es immer wieder zu versuchen. Und gleichzeitig offen zu bleiben.
„Es braucht es den Aufbau von Parallelorganisationen, also tatschlich zwei Händen, die unterschiedlich gelagert, aber Teil eines ganzen Organismus sind“
Haben Sie als Rechtshänder schon einmal versucht, mit links zu schreiben? Nach anfänglichen Problemen gelingt das wohl irgendwann doch einigermaßen gut. Und ebenso wie wir eine Lieblingsseite haben, mit der alles einfacher und leichter geht, ist es so auch in Organisationen. Die Kunst sei es, trotz schwarzer Zahlen, also aus der Stärke heraus Markt- und Technologieentwicklungen zu beobachten, die das eigene Kerngeschäft bedrohen könnten, schreibt die Autorin und Vordenkerin Julia Duwe. Sie zeichnet das Bild von gleich ausgeprägter Rechts- und Linkshändigkeit, um die beidhändige Führung zu beschreiben. Diese sei notwendig, um die Transformationsphase zu bestreiten, also den Übergang von konventioneller Technologie hin zu digitalen Welten. Hier findet Duwe auch eine Analogie zum Innovators Dilemma in zwei aufeinanderfolgenden S-Kurven, im mittleren Bereich die Dilemmazone bildend. Mir gefällt die Idee der besonderen Gestaltung dieser Transformationsphase. Ich persönlich frage mich jedoch, ob es wirklich sinnvoll ist, Personen, die Rechtshänder sind, mit links schreiben zu lassen, auch im übertragenen Sinne.
Ich würde lieber direkt Menschen suchen, die Linkshänder sind. Auch in leitenden Positionen. Das soll nicht heißen, dass sich die Person nicht in der jeweils anderen Welt zurechtfinden soll; aber bevor Rechtshänder plötzlich mit links schreiben sollen, stelle ich lieber Linkshänder ein. Interessant sind sicher auch geborene Linkshänder, die inzwischen mit rechts schreiben können, wie unsere Leiterin Innovation, Birgit Dillmann, es schaffte. Damit LAUDA als Ganzes die Fähigkeiten der Ambidextrie aufweist, braucht es den Aufbau von Parallelorganisationen, also tatschlich zwei Händen, die unterschiedlich gelagert, aber Teil eines ganzen Organismus sind. Ich plädiere geradezu dafür, jene Parallelorganisation zu entwickeln, aber dann für Kontaktpunkte zu sorgen. Beide Organisationen müssen den Nutzen der jeweils anderen erkennen. Bei LAUDA sind das Einbinden von Start-ups und die Bezugspunkte zur Kernorganisation und unser Ideenmanagement als verbindendes Element von großer Bedeutung. Berührungspunkte für diese nebeneinander aufgestellten Strukturen gibt es vor allem in Form von Menschen, jenen auch rechtshändig denkenden Linkshändern, die den Austausch zwischen Innovation und Start-up-Kooperationen sowie der firmeneigenen Herstellung, Forschung und Entwicklung und Management suchen. In einem lebhaft kommentierten Beitrag auf LinkedIn habe ich diese Mitarbeiter als „Freibeuter“ bezeichnet, die mit dem Segen der Geschäftsleitung frei agieren und die Strukturen so stimulieren können.
Bei der Ambidextrie ist es neben allem Neuen wichtig, das Kerngeschäft nicht zu vernachlässigen. Hier haben wir bei LAUDA einiges unternommen. Ein paar ausgewählte Beispiele: Zum einen haben wir den Übergang „Anforderungen des Marktes in Entwicklungsprojekte“ durch einen klaren Prozess neu gestaltet. Wir sind zudem gerade dabei, unsere traditionell organisierten Entwicklungsprojekte agil zu gestalten. Bezüglich Kommunikation habe ich mit der Nutzung des Intranets und einer regelmäßigen Fragestunde der Geschäftsführung einiges Neues etabliert. Die jährlichen Unternehmensziele werden seit diesem Jahr mit der bei Google erfolgreich praktizierten Methode OKR (Objectives and Key Results) regelmäßig überwacht.
Manches ist uns bei LAUDA bis hierher im Einzelnen bezüglich der beidhändigen Unternehmensführung ganz gut gelungen ist, aber es gibt auch einige der Misserfolge. Auch das gehört dazu. Permanentes Ändern ist das einzig Konstante.
Dr. Gunther Wobser ist Geschäftsführende Gesellschafter der LAUDA DR. R. WOBSER GMBH & CO. KG. Der promovierte Diplom-Kaufmann führt das Unternehmen bereits in dritter Generation. Gegründet wurde LAUDA mit Stammsitz in Lauda-Königshofen im Jahr 1956 von seinem Großvater, Dr. Rudolf Wobser.
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