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Welt in Aufruhr
Wir erleben eine im Entstehen befindliche neue Weltordnung. Die könnte auf ein System der Fünf hinauslaufen: neben den USA, China und Russland noch die EU und Indien.
Von Herfried Münkler
Das vom Westen, zumal von den USA und zuvor von den Briten, über Jahrzehnte hinweg favorisierte Projekt eines offenen Weltmarkts, der an die Stelle von durch Zölle und Handelsbegrenzungen abgesonderten und geschlossenen Einflussgebieten treten und damit einen relevanten Beitrag zum globalen Frieden leisten sollte, muss vorerst als gescheitert angesehen werden. Das Weltordnungsmodell des freien Marktes ist inzwischen zur wirtschaftspolitischen Binnenordnung des Westens geworden, besitzt also alles andere als globale Dimensionen. Es handelt sich dabei um das Wirtschaftsmodell der reichen Länder, und es könnte in seiner großräumlichen Begrenzung inzwischen vor allem dazu dienen, den technologischen Vorsprung des Westens, zumal gegenüber China, aufrecht zu erhalten, indem es den Wettbewerb im Innern stimuliert, aber einen Innovationstransfer nach außen unterbindet. Das wird auf Dauer freilich nur möglich sein, wenn sich der Westen seinerseits von anderen Wirtschaftsräumen abgrenzt und die Transfers spezifischer Technologien blockiert.
„Mit dem System der Fünf wird sich anstelle der zeitweilig erwarteten und auch erhofften global integrierten Wirtschaft ein Nebeneinander von mehreren ökonomisch hochgradig integrierten Großräumen entwickeln“
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Es sind also nicht nur China und andere, die mit entsprechenden Reglementierungen in die freie Zirkulation von Gütern und Kapital eingreifen, sondern das tun seit längerem bereits die USA, und auch die EU wird schwerlich darum herumkommen, zu ähnlichen Maßnahmen zu greifen. Diese werden gegen China eher selektiv erfolgen, aber im Verhältnis zu Russland wird es, solange der Krieg in der Ukraine andauert, durch die weitgehende Entkoppelung der russischen von den europäisch-atlantischen Wirtschaftskreisläufen zu einer auf lange Dauer angelegten Blockierung des Austauschs kommen. Es ist nicht zuletzt eine Politik westlicher Interessenwahrung und Wertedurchsetzung gegenüber Russland wie China, die das zunächst favorisierte Projekt einer auf den Weltmarkt gestützten Weltordnung beendet hat.
Mit dem System der Fünf wird sich anstelle der zeitweilig erwarteten und auch erhofften global integrierten Wirtschaft ein Nebeneinander von mehreren ökonomisch hochgradig integrierten Großräumen entwickeln, die untereinander zwar Verbindungen haben, aber diese werden, verglichen mit der Integration im Innern dieser Räume, eher schwach und dünn sein. Jede Seite wird darauf achten, dass sie den Export von Hochtechnologie wie strategisch relevanten Rohstoffen, etwa Seltenen Erden, unter Kontrolle behält und gleichzeitig in beiden Bereichen strategische Autonomie aufbaut.
Verlagerung Richtung Indien
Letzteres wird nicht ohne größere Einflussgebiete möglich sein, auf deren Wirtschaft die Handelsvorgaben der Zentralmacht aus geweitet werden. Der Austausch zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Wirtschaftsraum wird dabei eine Sonderstellung einnehmen, aber wie weit diese tatsächlich gehen kann und ob die Europäer auch in Zukunft einen größeren Wirtschaftsaustausch mit China pflegen werden, ist von politischen Entwicklungen abhängig, die sich nicht zuverlässig vorhersagen lassen. Es spricht jedoch vieles dafür, dass sich ein beträchtlicher Teil des europäischen Chinageschäfts in absehbarer Zeit auf Indien verschieben wird, und zwar weniger aus genuin wirtschaftlichen, sondern wesentlich aus geostrategischen Gründen: Es geht einerseits um die Möglichkeit ökonomischer Einflussnahme auf das «Zünglein an der Waage», dazu eine schrittweise Umstellung Indiens von Militärgerät russischer Herkunft auf eines, das aus dem Westen, den USA, aber auch Europa, stammt, und andererseits um eine Begrenzung der wirtschaftlichen Dynamik Chinas.
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Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa «Die Deutschen und ihre Mythen» (2009), das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie «Der Große Krieg» (2013), «Die neuen Deutschen» (2016), «Der Dreißigjährige Krieg» (2017) oder «Marx, Wagner, Nietzsche» (2021), die alle monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Zuletzt erschien «Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert», ebenfalls ein «Spiegel»-Bestseller. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.
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