
Gullivers Ketten oder: Kommt der wirtschaftspolitische Turn der Regierung nach dem Sommer?
Die Indikatoren weisen auf einen rasanten wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands hin. Die Frage ist: Schafft die aktuelle Bundesregierung den Spurwechsel? Wird es nach dem Sommer eine neue wirtschaftspolitische Agenda geben? / Schwerpunkt Standortkrise Deutschland
„Ein starker, aber mit vielen bürokratischen Hemmnissen gefesselter Riese“
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagt in einem Interview mit der Deutschen Presseagentur, er traue der Ampel noch einiges zu. „Warten wir ab, was nach der Sommerpause noch auf den Tisch gelegt wird. Es gibt in einigen Teilen der Koalition die Erkenntnis, dass der Standort gelitten hat, dass wir in den Standort investieren müssen. Es geht jetzt darum, die strategische Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland wieder in den Mittelpunkt des politischen Denkens und Handelns zu stellen.“ Dulger wählt dazu das Märchen-Bild von Gulliver, der mit vielen dünnen Fäden am Boden festgebunden ist: „So können Sie sich die Wirtschaft dieses Landes vorstellen: ein starker, aber mit vielen bürokratischen Hemmnissen gefesselter Riese. Für sich genommen hat jeder Faden keine große Auswirkung – insgesamt sind sie lähmend. Erst wenn wir von diesen Fäden 40, 50 und mehr gelöst haben, kann Gulliver wieder aufstehen und seine volle Kraft entfalten.“
„Die Union sollte einen Gesetzentwurf zur Reaktivierung der Atomkraftwerke ins Parlament einbringen“
Dr. Daniel Stelter, Makroökonom, Strategieberater und Publizist (beyond the obvious): „Der Ausstieg aus der Atomenergie hat entgegen der Ankündigung führender Politiker wie Katrin Göring-Eckardt (Grüne) nicht zu sinkenden Strompreisen geführt. Die Preise haben sich stattdessen so verhalten, wie man es bei sinkendem Angebot erwarten durfte. Damit kann auch die Bundesregierung die Gefahr für den Standort nicht mehr leugnen. Wirtschaftsminister Robert Habeck forderte deshalb bei seiner Indienreise erneut einen reduzierten Industriestrompreis für die nächsten drei bis fünf Jahre. Abgesehen von der erheblichen Wettbewerbsverzerrung handelt es sich um enorme Beträge. Im Raum stehen über 30 Milliarden Euro, die die Subvention pro Jahr kosten würde. Es ist höchste Zeit, dass diese unvernünftige Politik beendet wird. Kein Unternehmen wird in Deutschland bleiben, weil der Preis für Strom temporär subventioniert wird, wenn die Aussicht auf günstigere Energie in der Zukunft fehlt. Deutschland verfügt noch über acht reaktivierbare Kernkraftwerke, analysiert das US-Unternehmen Radiant Energy. Demnach lassen sich alle acht Kraftwerke in einem Zeitraum von drei Jahren wieder in Betrieb nehmen, die ersten bereits nach neun Monaten. Die Kosten werden auf rund 200 Millionen Euro pro Reaktor geschätzt. Man bräuchte also in der Summe weniger als zwei Milliarden Euro, um Deutschlands Versorgung mit günstigem und CO2-neutralem Strom zu erreichen. Doch das wichtigste Hindernis ist die parteipolitische Positionierung. Die Landesregierungen mit Beteiligung der Grünen würden sich vermutlich gegen einen Wiedereinstieg in die Atomenergie wehren. Das Atomenergiegesetz ist jedoch Bundessache. Hier wäre es möglich, einen Wiedereinstieg in die Atomkraft zu beschließen. Wenn es die Union ernst meint mit ihrer Forderung nach einem Politikwechsel, sollte sie einen entsprechenden Gesetzentwurf ins Parlament einbringen. Nur so lässt sich der Verlust wichtiger Industrien in Deutschland vielleicht noch verhindern.“
„Die Bundesregierung muss jetzt umsteuern“
Sarna Röser, Vorsitzende des Bundesverbands Junger Unternehmer, sagt auf DDW: „Wenn die Bundesregierung jetzt nicht umsteuert, werden noch mehr Unternehmer ihre Koffer packen und Deutschland den Rücken zukehren. Die Gründe für Unternehmsaufgaben und -umsiedlungen sind so vielfältig wie in ihrer Gesamtheit toxisch. Enorme bürokratische Lasten in Verbindung mit massivem Arbeitskräftemangel, langwierigen Verwaltungsverfahren, dauerhaft hohen Energiepreisen sowie hohen Steuern und Abgaben sind der Genickschlag für die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts. Deutschland ist zu teuer, zu überreguliert und zu verkrustet. Das ist nicht nur für den Standort Deutschland verheerend, sondern – mit Blick auf die hier vorangetriebenen Technologien beispielsweise für die klimafreundliche Transformation – auch weltweit. Noch haben wir die Industriecluster, aus deren Zusammenspiel sich großartige neue Lösungen ergeben – auch für die Klimawende. Genau deshalb brauchen alle Unternehmer gute Rahmenbedingungen, die uns machen lassen, während sich der Staat auf seine Kernkompetenzen konzentriert.“
„Überraschungscoup wie die Agenda-Politik Gerhard Schröders wäre nötig“
Michael Oelmann, Herausgeber von DDW: „Dass der Spurwechsel kommen wird, ist meines Erachtens unausweichlich. Die Deutschen wollen mehrheitlich eben nicht die „Letzte Generation“ sein, die das Licht ausknipst. Die Frage ist nur, ob der aktuellen Bundesregierung ein solcher Turnaround mit einem Überraschungscoup wie der Agenda-Politik Gerhard Schröders gelingen wird. Auf Scholz und Habeck bezogen könnte man sagen: Im Leben kommt es erstens anders, und zweitens als gedacht. Ihre wahre Prüfung wird nicht im besonders ambitionierten Abarbeiten ihres Koalitionsprogramms „für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ bestehen. Sondern ob sie angesichts der bitteren Realität des Wohlstandsverlustes den Schneid haben, eine Wende zu vollziehen. Dass Scholz das Zeug dazu hätte, hat er als Generalsekretär unter Schröder bewiesen. Und Habecks Elan in der Rolle des Marktwirtschaftlers zu erleben, das wäre was. Ich sehe allerdings die Kraft, sich dazu in der eigenen Partei durchzusetzen, bei keinem von beiden. Man blicke dazu nur auf die ebenso essentielle „zweite Reihe“: Die heißt bei der SPD heute eben nicht Franz Müntefering oder Wolfgang Clement, sondern Kevin Kühnert oder Saskia Esken. Die Negativauslese unseres politischen Personals schlägt angesichts der anstehenden Mammutaufgabe jetzt voll durch. Ein neuer Politikertypus wird für Deutschland gefragt sein, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen, die Verkrustungen aufzusprengen und die Selbstlügen zu beenden. Die CDU hat mit Carsten Linnemann so einen Mann in der Tür, dem das zuzutrauen ist. Doch der Elefant im Raum bleibt die AfD. Bleibt sie stark und die „Brandmauer“ erhalten, ist das die parlamentarische Machtgarantie selbst für marginalisierte Linke und Grüne.“
„Alle Alarmglocken in der Bundesregierung müssen schrillen“
Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates sagt: „Die Ampelregierung ist keine zwei Jahre im Amt, und schon ist Deutschland vom wirtschaftlichen Powerhouse zum kranken Mann Europas mutiert. Das lässt sich nicht mehr nur auf die Ukraine-Krise schieben, weil von ihr auch andere Länder betroffen sind, die deutlich besser abschneiden. Jetzt müssen endlich alle Alarmglocken in der Bundesregierung schrillen. Wirtschaftsfreundliche Standortbedingungen müssen zum Hauptziel dieser Bundesregierung werden. Denn aktuell kehrt gerade das verarbeitende Gewerbe der Bundesrepublik den Rücken. Ein drastischer Wohlstandsverlust wird folgen, wenn wir nicht gegensteuern. Umso wichtiger: Deutschland muss endlich wieder attraktiver für den hochmobilen Produktionsfaktor Kapital werden. Dazu müssen wir aufholen bei Bürokratielast, Fachkräftebasis, Infrastruktur, Digitalisierung – und ganz besonders eben bei den Unternehmenssteuern, die wir mindestens bis auf den Durchschnitt von OECD und EU senken müssen, sowie den hohen Energiekosten.“
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