Wir brauchen eine Umkehr beim Bürgergeld

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Im November 2022 war die Führung der SPD stolz auf das Projekt „Bürgergeld“. Der Vorsitzende Lars Klingbeil schrieb: „Mit dem Bürgergeld sorgt die Ampelkoalition für die größte Sozialreform seit 20 Jahren. Und entwickelt hat sie die SPD! Hartz IV ist damit Geschichte. Mit dem Bürgergeld schaffen wir einen echten Kulturwandel in der Grundsicherung für Arbeitsuchende.“

Von Professor Dr. h.c. mult Roland Koch

Wahrscheinlich war der Satz „Hartz IV ist damit Geschichte“ das wirkliche Motiv der Freude. Man wollte die 2003 von Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier und Peter Hartz geschaffenen Prinzipien des Forderns und Förderns – Stichwort Agenda 2010 – endlich vom Tisch haben und sich mit den Kernwählern der „alten“ SPD versöhnen.

SPD-Ziel der Wählerberuhigung verfehlt

Schaut man sich aktuelle Meinungsumfragen an, scheint das Projekt für die SPD nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein. Man kann sogar einige Anzeichen dafür erkennen, dass Vertreter der Partei sich vorsichtig an Korrekturen herantasten. Deshalb lohnt es sich zu fragen, was da schiefgelaufen ist und wie der Weg zurückgefunden werden kann.

Dazu sollte man sich die Absichten der damaligen Hartz-Papiere vor Augen führen. Bei der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, wie sie damals geschah, galt das Prinzip: Wer Hilfe erhält, muss alles tun, um seine Abhängigkeit vom Staat so schnell wie möglich zu beenden.

„Jetzt kann man den Grund erkennen, warum aus dem bejubelten Projekt „Bürgergeld“ gerade für die Sozialdemokraten immer mehr ein Desaster wird“

In der sozialen Grundsicherung für Erwerbsfähige war seitdem generell jede Arbeit zumutbar. Langzeitarbeitslose mussten nahezu jeden Job annehmen, auch Minijobs. Wer Jobangebote ablehnte, musste Kürzungen beim Arbeitslosengeld von bis zu zehn Prozent hinnehmen. Diese Regelungen wurden und werden von Teilen der SPD-Wählerschaft offensichtlich als zu hart betrachtet. So erklärt sich der Jubel von Lars Klingbeil, als mit dem Bürgergeld ein nahezu bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wurde, das in seiner Höhe an die unteren Lohngruppen heranreicht.

Bürgergeld und Mietzuschuss zusammen sind das Problem

Zusätzlich zu dem schweren Fehler, der Pflicht zur Erwerbstätigkeit keinen Vorrang mehr zu geben, wurde auch unterschätzt, welche Bedeutung die Unterstützung zur Wohnraumfinanzierung hat. Letztlich müssen Kommunen, vor allem in Ballungsräumen, diesen Wohnraum beschaffen und werden damit zum Preistreiber: Sie definieren die Mieten im unteren Marktsegment! Im Hochtaunuskreis bezahlt der Sozialhilfeträger zum Beispiel im Schnitt 11,22 Euro Miete pro Quadratmeter, während die durchschnittliche Wohnungsmiete bei 8,60 Euro liegt.

Jetzt kann man den Grund erkennen, warum aus dem bejubelten Projekt „Bürgergeld“ gerade für die Sozialdemokraten immer mehr ein Desaster wird. Arbeitnehmer mit einträglicher Beschäftigung erkennen, dass Bürgergeld und Mietzuschuss zu einem gleichen oder besseren Netto-Einkommen führen, als sie es sich selbst in Vollzeit erarbeiten können. Das schwächt nicht nur den Arbeitswillen der Bürgergeld-Empfänger, es ist zugleich eine Attacke auf das Gerechtigkeitsempfinden aller hart arbeitenden Arbeitnehmer – auch das der SPD-Wähler.

Es gibt konkrete Vorschläge zur Änderung

Es ist offensichtlich, dass diese Regelung weder ökonomisch noch politisch Bestand haben kann. Was also wären realistische Optionen zur Veränderung?

Der Gesetzgeber kann und muss vor allem anderen bei künftigen Leistungsanpassungen wieder einen angemessenen Abstand zum unteren Erwerbslohn herstellen. Das allerdings wird nicht reichen. Frank Jürgen Weise, der ehemalige – und überaus erfolgreiche – Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, sein damaliger Stellvertreter Heinrich Alt sowie Rainer Schlegel, der langjährige Präsident des Bundessozialgerichts, haben dieser Tage in der FAZ bedenkenswerte Vorschläge gemacht. Diese könnten uns den Ideen der Sozialen Marktwirtschaft wieder ein Stück näherbringen:

  • Die Betreuung durch die Jobcenter muss besser werden. Gleichzeitig müssen die Kürzungen bei Verweigerung hoch sein und konsequent angewandt werden. Es gibt keinen Anspruch auf bedingungslose Unterstützung. Es wird hart werden, dieser Selbstverständlichkeit wieder Geltung zu verschaffen, aber es muss sein.
  • Pauschalen müssen die Pseudo-Einzelfallgerechtigkeit ersetzen. Das schafft personelle Ressourcen für die intensivere Betreuung. Derzeit muss bei jedem Schüler in einer Familie von der Klassenfahrt bis zum Essensgeld alles einzeln bearbeitet werden.
  • Vor allem muss der Mietzuschuss pauschaliert werden. Dabei kann es durchaus eine Differenzierung zwischen ländlichen Regionen und Ballungsräumen geben; gleichzeitig muss es eine Prämie für die geben, die preiswerten Wohnraum suchen oder sich eine kleinere Wohnung nehmen. Wenn sie dann etwas mehr zum Unterhalt haben, ist das völlig in Ordnung. Man kann sicher sein, dass ohne den Preistreiber Sozialstaat die Mieten allgemein sinken werden.
  • Auch für Menschen, die lange arbeitslos sind – immerhin waren 2023 laut Bundesarbeitsagentur 225.000 Personen vier Jahre und länger auf der Suche nach einer Beschäftigung –, muss es einen Arbeitsmarkt geben. Hier wird die Wiederaufnahme der alten Idee eines unbefristeten kommunalen Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnisses notwendig sein. Dabei entstehen Kosten, aber diese werden die bisherigen Sozialleistungen für Erwerbslose kaum übersteigen. Wer diese Angebote ablehnt, muss mit Sanktionen rechnen.
  • Jugendliche mit Schulabschluss verlieren die Unterstützung, wenn sie ein Ausbildungsangebot, möglicherweise auch regional etwas weiter weg, nicht annehmen oder die Ausbildung abbrechen. Jugendliche ohne Schulabschluss verlieren ihre Unterstützung, wenn sie sich nicht einer integrationsfördernden Maßnahme anschließen, seien es Sprachkurse oder das Nachholen eines Abschlusses.

„Letztlich muss jedoch klar bleiben, dass es kein bedingungsloses Grundeinkommen geben kann. Es gibt Hilfe in der Not unter der Bedingung größtmöglicher eigener Anstrengungen“

Es kann kein bedingungsloses Grundeinkommen geben

Alle diese Maßnahmen sind nur wirksam, wenn sie klar und hart umgesetzt werden. Das fällt niemandem leicht. Letztlich muss jedoch klar bleiben, dass es kein bedingungsloses Grundeinkommen geben kann. Es gibt Hilfe in der Not unter der Bedingung größtmöglicher eigener Anstrengungen. Alle Erfahrungen, in welchen Ländern auch immer, sprechen dafür, dass die Betroffenen hierauf reagieren. Wahrscheinlich werden wir in absehbarer Zeit auch den statistischen Nachweis erhalten, dass die Illusion des Bürgergeldes dagegen zum Abbruch von Beschäftigung, die anschließende Aufnahme eines Minijobs, gelegentlich kombiniert mit Schwarzarbeit, und damit zu großen volkwirtschaftlichen Schäden geführt hat.

Es mag sein, dass die SPD durch unzureichende Kommunikation der „Basta-Politik“ von Gerhard Schröder den Wählern ihrer Partei die Hartz-Reformen nicht ausreichend vermittelt hat. Aber schon heute ist offensichtlich, dass mit der 2022 bejubelten Abkehr von dieser Politik viele Wähler der SPD und viele Menschen, die ohnehin an den traditionellen Parteien zweifeln, erneut vor den Kopf gestoßen wurden. Ohne Erwerbsarbeit können wir weder das Sozialsystem noch den persönlichen Wohlstand finanzieren. Diesem Grundsatz muss das Bürgergeld folgen. Daher muss das System geändert werden.

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Professor Dr. h.c. mult. Roland Koch ist seit November 2020 Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung. Koch war bis von 1999 bis 2010 Hessischer Ministerpräsident. Altbundeskanzler Ludwig Erhard gründete 1967 die Ludwig-Erhard-Stiftung und gab ihr die Aufgabe, für freiheitliche Grundsätze in Wirtschaft und Politik einzutreten und die Soziale Marktwirtschaft wachzuhalten und zu stärken. Die Stiftung ist von Parteien und Verbänden unabhängig und als gemeinnützig anerkannt. Sie tritt politischem Opportunismus und Konformismus mit einem klaren Leitbild entgegen: Freiheit und Verantwortung als Fundament einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für den mündigen Bürger. Infos

Eine Antwort zu “Wir brauchen eine Umkehr beim Bürgergeld”

  1. Arbeitnehmer positioniert, als Vertreterin derer, die für soziale Gerechtigkeit und faire Arbeitsbedingungen kämpfen. Doch die Abkehr von der Agenda-Politik im Jahr 2022 hat viele Wähler und Mitglieder verunsichert, insbesondere jene, die auf eine klare Linie in der Arbeitsmarktpolitik gesetzt haben.

    Die Rückbesinnung auf ein soziales Sicherungsnetz mag als notwendige Korrektur der als hart empfundenen Hartz-Reformen gedacht gewesen sein, aber sie hat auch die Frage aufgeworfen, ob die SPD noch die Partei der Arbeitnehmer ist, die sie einmal war. Denn gerade diese Arbeitnehmer, die sich nach sozialem Aufstieg und Sicherheit sehnen, fühlen sich durch die unklare Haltung der Partei oft im Stich gelassen.

    Wenn die SPD ihre Rolle als Partei der Arbeitnehmer wieder ernst nehmen will, muss sie einen Weg finden, soziale Absicherung und Arbeitsanreize in Einklang zu bringen. Nur so kann sie das Vertrauen derjenigen zurückgewinnen, die sich eine Partei wünschen, die ihre Interessen glaubwürdig vertritt.

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