Vor 50 Jahren begann die Terrorherrschaft der Roten Khmer

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Vor 50 Jahren begann in Kambodscha eines der grausamsten sozialistischen Experimente der Geschichte.

Von Dr. Dr. Rainer Zitelmann

Die meisten Schüler haben nie ausführlich (oder überhaupt) etwas in der Schule darüber gehört – dabei kamen bei der Terrorherrschaft der Roten Khmer von Mitte 1975 bis Anfang 1979 zwischen einem Viertel und einem Fünftel der Bevölkerung Kambodschas um – die Schätzungen belaufen sich auf 1,6 bis 2,2 Millionen Menschen. Aufschlussreich ist dieses Experiment, das der Anführer Pol Pot (auch „Bruder 1“ genannt) nach dem Vorbild von Maos „Großem Sprung nach vorne“ als „Super Großen Sprung nach vorne“ bezeichnete, weil es in extremer Weise den Glaube daran zeigt, eine Gesellschaft könne künstlich am Reißbrett konstruiert werden.

An Pariser Unis ausgebildet

Heute wird manchmal davon gesprochen, Pol Pot und seine Genossen hätten einen „primitiven Steinzeitkommunismus“ verwirklichen wollen, und ihre Herrschaft erscheint als enthemmte Irrationalität. Tatsächlich verhielt es sich anders. Die Vordenker und Anführer waren Intellektuelle, die aus guten Familien stammten, in Paris studiert hatten und in der Kommunistischen Partei Frankreichs tätig waren. „Basierend auf Anleihen marxistischer und maoistischer Konzepte entwickelte die intellektuelle Spitze der Partei ihre eigene Theorie der weltkapitalistischen Ausbeutung, ihr eigenes Modell der kambodschanischen Sozialstruktur und ihrer historisch gewachsenen Verwerfungen, die das Land in einem Zirkel der Unterentwicklung und Abhängigkeit von anderen gefangen halten.“

Zwei der Vordenker, Khieu Samphan und Hu Nim, hatten in Paris marxistisch bzw. maoistisch argumentierende Dissertationen geschrieben. Der Pariser Zirkel der Intellektuellen nahm nach der Machtergreifung fast alle führenden Positionen in der Regierung ein.

Die vollendete Planwirtschaft

Sie hatten einen detaillierten Vierjahresplan ausgearbeitet, der genau alle benötigten Produkte (Nadeln, Scheren, Feuerzeuge, Tassen, Kämme usw.) auflistete. Der Detaillierungsgrad war selbst für eine Planwirtschaft ungewöhnlich. So hieß es zum Beispiel: „Essen und Trinken sind kollektiviert. Nachtisch wird ebenso kollektiv zubereitet. Kurz gesagt, den Lebensstandard des Volkes in unserem Land anzuheben, bedeutet es kollektiv zu tun. Im Jahr 1977 soll es zwei Nachtische pro Woche geben. Im Jahr 1978 gibt es einen Nachtisch alle zwei Tage. Und dann im Jahr 1979 gibt es jeden Tag einen Nachtisch und so weiter. Also werden die Menschen kollektiv mit ausreichend Essen leben, sie werden (zudem) mit Snacks ernährt. Sie sind glücklich, in diesem System zu leben.“

“Alle Regionen wurden den gleichen Zielvorgaben unterworfen, da die Partei glaubte, dass genormte Ausgangsbedingungen auf exakt gleich großen Feldern auch einen genormten Ertrag erbringen würden”

Die Partei, so schreibt Daniel Bultmann in seinem ausgezeichneten Buch über die Terrorherrschaft, „plante das Leben der Bevölkerung wie auf dem Reißbrett und fügte sie in einen vorstrukturierten Raum und in vorstrukturierte Bedürfnisse ein“. Überall sollten gigantische Bewässerungsanlagen und Felder in einer gleichmäßigen, quadratischen Bebauungsform entstehen. Alle Regionen wurden den gleichen Zielvorgaben unterworfen, da die Partei glaubte, dass genormte Ausgangsbedingungen auf exakt gleich großen Feldern auch einen genormten Ertrag erbringen würden. „Mit dem neuen Bewässerungssystem und den schachbrettartigen Reisfeldern sollte die Natur der utopischen Wirklichkeit einer vollends kollektivistischen und Ungleichheit bereits im Keim beseitigenden Ordnung angepasst werden.“

Doch die Anordnung der Bewässerungsdämme in gleich großen Quadraten mit ebenso quadratischen Feldern in ihrer Mitte führte oft zu Überschwemmungen, da die natürlichen Wasserströme ignoriert wurden und die Funktionäre meist über keinerlei technische Kenntnisse des Dammbaus verfügten. Die Bewässerungsanlagen wurden in Zwangsarbeit errichtet, exakt nach dem Plan aus der Zentrale – aber 80 Prozent von ihnen funktionierten nicht.

Einheitskleidung und kein Privateigentum

Das Privateigentum sollte vollständig abgeschafft werden – so wie wir das auch aus einigen utopischen Romanen kennen. „Bruder 1“ und seine Genossen beschränkten sich nicht auf eine Verstaatlichung von Grund, Boden und Produktionsmitteln. Ab dem September 1976 mussten die Menschen absolut alles abgeben, auch Uhren, Radios, Werkzeug, Pflüge, Saatgut, Küchenutensilien usw. Alle Menschen mussten die gleiche, schwarze Einheitskleidung und einen nach Geschlechtern getrennten „revolutionären“ Haarschnitt tragen. Schmuck gab es nicht. Allerdings konnten Parteikader an Notizblöcke, Fahrräder und Stifte kommen, die sie von der Masse deutlich abhoben und die sie dann mit Stolz vorführten.

Dieser Beitrag stammt weitestgehend aus dem internationalen Bestseller „Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten“ von Dr. Dr. Rainer Zitelmann, das in 30 Sprachen erschienen ist. Hier mehr Infos zum Buch

Um mit dem Aufbau einer gerechten Gesellschaft noch einmal ganz von vorne anzufangen, wurden fast alle Menschen aus den Städten vertrieben. Dabei logen die Kommunisten die Menschen an und sagten ihnen, es stünden Bombardierungen durch die USA bevor und sie müssten die Häuser nur für ein paar Tage verlassen. Daher müssten sie nicht viele Dinge mitnehmen und die Häuser auch nicht abschließen. Sie mussten ihre Häuser innerhalb von 24 Stunden verlassen, doch von Anfang an war geplant, sie nie mehr zurückkehren zu lassen. Familien wurden oft auseinandergerissen, die Menschen vereinzelten und wurden neu in Kollektiven zusammengepresst. Meist blieb es nicht bei einer Deportation, sondern sie wurden immer wieder an andere Orte gebracht.

Besonders hinterhältig war, dass die Menschen gefragt wurden, ob sie nicht lieber in ihre Heimat zurückkehren wollten. Doch das war nur eine Fangfrage, um jene zu identifizieren, die ideologisch nicht zuverlässig waren und die einer intensiveren Umerziehung bedürften. Bejahte jemand also die Frage, brachte man ihn an einen anderen Ort, aber nicht in die frühere Heimat, oder dorthin, wo die Lebensbedingungen etwas besser waren, sondern dorthin, wo sie noch unerträglicher waren.

„Menschen sind wie Ochsen“

Die Kommunisten verglichen das Individuum mit einem Ochsen: „Ihr seht den Ochsen, der den Karren zieht. Er frisst, wo man ihm zu fressen gibt. Lässt man ihn auf einem Feld weiden, frisst er dort. Führt man ihn auf ein anderes Feld, wo nicht genug Gras wächst, weidet er trotzdem dort. Er kann sich nicht frei bewegen. Er steht unter Aufsicht. Und wenn man ihn den Karren ziehen heißt, zieht er den Karren. Er denkt niemals an seine Frau, an seine Kinder…“ Das Kollektiv übernahm sogar die Auswahl des Ehepartners. Wer mehr als einmal einen Ehepartner ablehnte, galt schnell als Feind des Systems.

Noch am Tag der Machtergreifung, am 17. April 1975, legte der Anführer Pol Pot seinen Plan für die kommenden Wochen und Monate dar. Er sah u.a. vor:

  • Evakuierung aller Menschen aus den Städten,
  • Abschaffung aller Märkte,
  • Abschaffung des Geldes.

Gleich am ersten Tag wurde die Zentralbank gesprengt und Geld komplett abgeschafft. Die Banknoten flatterten wertlos durch die verlassenen Straßen der Stadt. Gold oder Schmuck wurde – so wie aller Privatbesitz – vom Staat beschlagnahmt.

Hunger und Folter

Die Planwirtschaft scheiterte rasch und radikal. Die Menschen mussten Hunger leiden. Aber natürlich sahen die Kommunisten die Ursache für das Scheitern nicht in der Unmöglichkeit, eine Gesellschaft am Reißbrett zu entwerfen, sondern sie machten angebliche Saboteure verantwortlich. Zehntausende wurden verhaftet und in Foltergefängnisse eingesperrt. Die Roten Khmer selbst behaupteten, bei ihnen gebe es keine Gefängnisse, und dies war in gewisser Weise sogar zutreffend, denn es waren eher Orte der Folter und des Todes, aus denen kaum einer lebend zurückkehrte. Unter Folter wurden „Geständnisse“ erpresst, wie etwa dieses: „Ich gab Anweisungen, die Ernte zu zerstören, indem man sie noch unreif erntet. Ich habe Chaet beauftragt, Reis zu verbrennen… Mein Ziel war es, Unruhe unter den Menschen zu schaffen, vor allem zwischen dem neuen Volk und dem Basisvolk. Dies behinderte den Plan der Partei.“

“Am Anfang richtete sich der Terror vor allem gegen die ‘Reichen’ und Gebildeten. Die Reichen und Gebildeten aus den Städten waren plötzlich – wortwörtlich – ganz unten in der Nahrungskette”

Oder: „Ich bin ein falscher Revolutionär, denn in Wirklichkeit bin ich ein Feind, ein Feind des Volkes, der Nation Kampucheas, und der Kommunistischen Partei Kampucheas. Ich bin ein billiger, reaktionärer Intellektueller, der sich bloß als Revolutionär ausgibt.“ Menschen mussten gestehen, dass sie für die CIA arbeiteten, obwohl viele gar nicht wussten, was die CIA war (manche dachten, dies sei der Name einer Person). Die Geständnisse waren zum Teil absurd und in sich widersprüchlich, so etwa: „Ich bin kein Mitglied der CIA. Ich habe gestanden, der CIA anzugehören, als man mich mit meiner Schuld konfrontierte. Ich bitte die Organisation, mich zu töten, weil ich nicht der Revolution gefolgt bin.“

Das ganze Land wurde mit einem Netz von 196 sogenannten Sicherheits- und Umerziehungszentren durchzogen, die sich in ihrer Struktur, in ihren Funktionen und internen Abläufen haargenau glichen. Schulen und buddhistische Pagoden wurden geschlossen und zu Internierungslagern für den Klassenfeind umfunktioniert.

Für den Kern des Sicherheitsapparates wurden vor allem Kinder zwischen 12 und 16 Jahren rekrutiert, die nach Meinung Pol Pots unbeschriebene, weiße Blätter waren, die man beliebig mit sozialistischem Denken befüllen könnte. Teil der Ausbildung der Kinder war es, dass sie dabei zusehen mussten, wie andere vor ihren Augen gefoltert oder auf bestialische Weise unter langsamen Qualen ermordet wurden. Dabei durften sie keine Gefühlsregung zeigen, da dies als Zeichen der Sympathie mit dem Feind gedeutet wurde und entsprechend unter Strafe stand.

Am Anfang ging es gegen die Reichen

Am Anfang richtete sich der Terror vor allem gegen die „Reichen“ und Gebildeten. Die Reichen und Gebildeten aus den Städten waren plötzlich – wortwörtlich – ganz unten in der Nahrungskette. Berichte über sadistisches Verhalten von Kadern, die selbst in Überfluss lebten und die alte Elite quälten, gab es dementsprechend reichlich.“ Die Kommunistische Partei erklärte vor allem die oberen Wirtschafts- und Bildungsklassen zu Feinden des Volkes und ermordete sie bereits bei kleinsten Vergehen in den Umerziehungslagern. „Kandidaten, die sich wünschen, der Partei beizutreten, müssen aus niedrigen Klassen kommen, wie etwa aus der ärmeren oder mittleren Bauernschaft, primär aus den unteren Schichten.“

Doch bald schon wurde der Kreis der Feinde immer größer und keine Bevölkerungsgruppe verschont. Jeder konnte jederzeit als Feind des Systems entlarvt werden, auch wenn er der Kommunistischen Partei angehörte – mindestens die Hälfte der eigenen Kader wurde ermordet. Wer nicht als „Feind“ gelten wollte, musste permanent andere „Feinde“ entlarven und denunzieren. So entstand eine Spirale der Gewalt. Später wurden im ganzen Land fast 20.000 Massengräber mit Opfern des Regimes entdeckt.

Die Macht, die alles beherrschte, nannte sich „Angkar“ („Organisation“) und die Menschen wussten nicht einmal, wer diese Organisation war. Sie wussten nur, dass sie sich ihr nicht widersetzen konnten und dass sie das gesamte Leben beherrschte – so wie der „Big Brother“ in George Orwells Buch „1984“. „Alle revolutionären Gesetze wurden im Namen Angkars verkündet; alle Vergehen waren Angkar bekannt und wurden von ihr bestraft. Angkar war überall, eine alles durchdringende Präsenz, der niemand entkam. ‚Angkar hat mehr Augen als eine Ananas’, sagte ein Kader. Ehemänner und Ehefrauen sprachen über Angkar nur im Privaten, flüsternd, in Angst gehört zu werden. Niemand kritisierte Angkar öffentlich; selbst eine minimale und flüchtige Andeutung konnte genug sein, um sich eine Verhaftung, Befragung sowie das abschließende Verschwinden zur Umerziehung zu sichern. Die Gefahr war omnipräsent; zu keinem Zeitpunkt konnte man sich sicher sein, ob nicht ein Spion Angkars mithörte.“

“Und wie bei allen sozialistischen Regimen – von Lenin und Stalin über Mao bis zu Hugo Chávez – feierten oder verharmlosen linke Intellektuelle und Medien den Terror”

Das Regime scheiterte nach wenigen Jahren. Es ist ein extremes Beispiel dafür, wie sozialistische Utopien durch einen extremen Konstruktivismus verwirklicht werden sollten. Pol Pot und seine Genossen hatten geglaubt, radikale Gleichheit werde zu einer gerechten und glücklichen Gesellschaft führen. Er hätte es besser wissen können, nachdem der „Große Sprung nach vorne“ in Maos China bereits so grandios gescheitert war und 45 Millionen Menschenleben gekostet hatte. Für Pol Pot war das sozialistische Experiment des „Großen Sprungs nach vorne“ ein Vorbild – es war eben nur nicht radikal und konsequent genug umgesetzt worden, daher sprach er bei seinem Experiment von einem „Super Großen Sprung nach vorne“. Die neue Nationalhymne endete mit: „Errichten wir unser Vaterland, auf das es einen Großen Sprung nach vorne tue!“

Ein intellektueller Funktionär mit Auslandserfahrung erklärte stolz: „Wir sind dabei, eine einzigartige Revolution zu verwirklichen. Kennen Sie ein einziges Land, das wie wir, es wagte, die Märkte und das Geld abzuschaffen? Wir überflügeln die Chinesen, unsere Bewunderer, bei weitem. Sie versuchen uns nachzueifern, aber es gelingt ihnen noch nicht. Wir werden zum Vorbild für die ganze Welt.“ Noch nach dem Verlust der Macht betrachtete Pol Pot den 17. April 1975 als das größte Ereignis der Geschichte, „mit Ausnahme der Pariser Commune von 1871“.

Journalisten als Komplizen des Terrors

Und wie bei allen sozialistischen Regimen – von Lenin und Stalin über Mao bis zu Hugo Chávez – feierten oder verharmlosen linke Intellektuelle und Medien den Terror. Unter der Überschrift „Journalisten als Komplizen des Schreckens“ berichtet Lucien Scherrer in der NZZ, wie Journalisten das kommunistische Terrorregime in Kambodscha feierten oder verharmlosten:

„Vielmehr berichten die «Libération», das linksbürgerliche Leitmedium «Le Monde» und die kommunistische Parteizeitung «Humanité» während Monaten von lachenden, wohlgenährten Bauern, gesunden Kindern und fröhlich winkenden Mönchen (von rund 50 000 Mönchen überlebten nur 3000 die Verfolgungen der Roten Khmer). Das kambodschanische Volk, so schreibt «Le Monde» im Juli 1975, feiere laut Berichten von staatlichen Sendern grosse Erfolge in der Wirtschaft und in der Gesundheitspolitik – und es gebe keinen Grund, diesen Meldungen zu misstrauen. Die «Humanité» behauptet am 8. Mai 1975, die Einwohner von Phnom Penh seien nicht unglücklich gewesen, die Stadt zu verlassen. Massaker habe es keine gegeben, und auch von einer Deportation der Bevölkerung könne keine Rede sein. Dabei veröffentlichen bürgerliche Zeitungen in Frankreich und anderen Ländern schon im Frühling 1975 Aussagen von Flüchtlingen, die auf Verbrechen in der «Demokratischen Republik Kampuchea» hinweisen.“

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Dr. Dr. Rainer Zitelmann ist Historiker – und war auch als Unternehmer und Investor erfolgreich. Er hat 29 Bücher geschrieben und herausgegeben, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden (“Weltreise eines Kapitalisten“, “Warum Entwicklungshilfe nichts bringt und wie Länder Armut wirklich besiegen“, “Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten“). Sein jüngstes Buch ist der Anti-Woke Roman „2075. Wenn Schönheit zum Verbrechen wird“.

Bild von MARCIN CZERNIAWSKI auf Pixabay

0 Antworten zu “Vor 50 Jahren begann die Terrorherrschaft der Roten Khmer”

  1. Bemerkenswert wäre zu erwähnen, dass nach dem Sturz von Pol Pot und Heng Samrin der von dem Khmer Rouges kujonierte Prinz Sihanouk als Kronzeuge gegen die neue Regierung vor den VN auftrat, die das von Rotchina unterstützte Terrorregime noch jahrelang als Vertretung Kambodschas anerkannte. Damals waren sich Peking und Moskau spinnefeind.

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